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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Haupt droben in anderer Welt« leben und der Himmel sich verdunkelt hat: »Endlos wirken sie da und scheinens wenig zu achten, / Ob wir leben«. Die Brüder und Schwestern lassen dennoch keine Kniebeuge aus.

Man muß sich Großvater, nehme ich an, mit Hut vorstellen, wie er ihn auf einigen Straßenphotos trägt, ein kleiner, dicklicher Mann mit auffallend rundlichem Gesicht, dem obligatorischen Stoppelbart und altmodischem Hut, ein grauer Anzug mit bunter Krawatte und zu der Jahreszeit wahrscheinlich ein Mantel darüber, ein Mantel oder Regencape, den Großmutter ihm bei C&A gekauft haben wird, wenn es C&A damals bereits in Siegen gab. Soweit ich mich erinnere, liebten alle Iraner C&A , die Buchstaben mitsamt des »und« deutsch gesprochen mit persischem Akzent. Selbst in Iran war ständig von den Besuchen bei Sehondah die Rede, wenn es um Deutschland ging. Mehr als alles andere, Aufklärung, Technik und Kolonialismus, war das Land der Franken ein Bekleidungsgeschäft. Ja, Großvater trug bestimmt einen Mantel von Sehondah , der seiner kleinen runden Gestalt etwas Eleganz verlieh, und kaufte für fünfunddreißig Mark einen Schirm dazu, der eingeklappt und teleskopiert in jede Tasche paßte, einen Knirps, nehme ich an. Zurück am Hang gegenüber vom St. Marien, wollte er Großmutter diese praktische Erfindung vorführen, doch riß er den Griff und das Gelenk zu heftig auseinander, statt auf den Knopf zu drücken, so daß die Stangen zerbrachen. Großvater ärgerte sich über die fünfunddreißig Mark, seine Ungeschicklichkeit und am meisten über Großmutters Vorwurf, sinnlos Geld ausgegeben zu haben, der zu allem Überfluß diesen triumphierenden Unterton hatte, der alle ihre Vorwürfe kennzeichnete, wenn deren Berechtigung petrographisch dargestellt, forensisch erwiesen und zu hundert Prozent anerkannt war, bevor ein Schuldeingeständnis ihr Mitleid wecken konnte. Meine Mutter, die in der Küche hörte, wie sich die Großeltern stritten, trat ins Wohnzimmer. – Den Schirm kann man doch umtauschen, lachte sie. Der Schirm ist kaputt, klärte Großvater sie auf. Erneut lachte meine Mutter, wie sie immer lachte, wenn ihre Eltern sich als hinterwäldlerisch erwiesen: Bei den Franken könne man seine Einkäufe selbstverständlich und ohne Komplikationen umtauschen, selbst wenn sie nicht funktionierten, ja gerade, wenn sie nicht funktionierten. Großvater möge sich nicht sorgen und Großmutter bitte nicht mit ihm schimpfen. Am nächsten Morgen begleitete sie Großvater zu dem Geschäft, in dem sich die Verkäuferin ohne Zögern, ohne den Schirm auch nur anzusehen, bereit erklärte, ihn zu ersetzen. Der Apostel Thomas schaute Christus nicht ungläubiger an als Großvater die Verkäuferin. Um das Wunder empirisch zu verifizieren, fragte er meine Mutter, was die Verkäuferin sagen würde, wenn er vom Kauf zurücktreten wolle. Da gluckste meine Mutter erneut vor Vergnügen und versicherte, daß die Verkäuferin den Betrag dann selbstverständlich erstatte. Sie, die Mutter, würde es allerdings nicht empfehlen, da Großvater den Schirm in Iran gut gebrauchen könne. Auch damit behielt sie recht: Als er zwanzig Jahre später seine Selberlebensbeschreibung verfaßte, schützte sich Großvater noch immer mit dem Siegener Knirps vor dem Regen in Isfahan.
    Mögen alle, ich betone: soweit ich es übersehe oder mich erinnere, ausnahmslos alle anderen Iraner in Deutschland die allgemeine Schroffheit des Umgangs beklagen, führt Großvater als weiteres Beispiel für die ausnehmenden Sitten der Franken die Friseursalons an, in denen er sich den Bart auf die Mindestlänge stutzen ließ, die der Prophet empfohlen: Schon beim Warten die Höflichkeit, Ruhe und Geduld zu beobachten, mit der die Friseure und ihre Kunden sich unterhielten, sei »wahrhaft ein Genuß« gewesen. Auch er selbst wurde jedesmal mit höchstem Respekt, streng der Reihe nach bedient und hegte beim Bezahlen nicht ein einziges Mal den Verdacht, übervorteilt zu werden. Besonders beeindruckte ihn ein Friseur in Paris, der sich feierlich vor ihm aufstellte, beide Arme an die Brust legte, a votre service sagte und sich verbeugte, als sei der Kunde – man stelle sich das vor – ein König. Die lateinischen Buchstaben hat Großvater handschriftlich ins Manuskript eingefügt, so

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