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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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wie. Am nächsten Tag erwacht er in einem Bett und sieht die Gnädige Frau. Er braucht einige Sekunden, bis er sich orientiert hat. »Die Schmerzen sind erträglich«, beantwortet er dann ihre Frage. »Gott sei gepriesen«, stöhnt sie auf und beginnt zu schimpfen.
    In einem Pulk vor einem Filmkunsttheater zu stehen ist aus verschiedenen Gründen erfreulich. Es deutet auf den Zuspruch hin, den das Kino erfährt, und damit auf den Anspruch, den es sich auch künftig leisten kann. Es berechtigt zur Vermutung, daß die Vorstellung verheißungsvoll besprochen wurde, für die man selbst sich ganz zufällig entschieden hat – nur weil man nach dem Abendessen den Block zwischen der Wohnung und dem Büro einmal in entgegengesetzter Richtung entlanglief und auf das Plakat eines Films aus oder über Indien aufmerksam wurde, wo man vor einiger Zeit selbst war. Auch läßt man sich, wenn man sich schon in eine Menge zwingt, das Publikum eines Dokumentarfilms aus Indien noch am ehesten gefallen; es ist höflich, neugierig und setzt sich zusammen aus allen Generationen (später rückt man bereitwillig einen Platz nach links oder rechts, damit kein Paar getrennt sitzen muß). Zum Ereignis wird die Situation, wenn plötzlich die Zuschauer der vorherigen Vorstellung aus dem Kinosaal treten und durch den kleinen Vorraum auf die Straße drängen mit ihren Lichtern, dem Wind und dem unerwarteten Pulk, der sich zweiteilt wie das Meer vor Moses. Die Überraschung erfaßt beide Lager, die Heraustretenden und die Wartenden, obwohl nichts an dem Aufeinandertreffen überraschend ist: Bevor die eine Vorstellung beginnt, muß die andere zu Ende gegangen sein. Man hat nur nicht daran gedacht, die Heraustretenden, weil sie im Kino, die Wartenden, weil sie im Gespräch, in Gedanken oder im Tagtraum waren. Um so rascher löst sich die Verblüffung auf, jedenfalls auf seiten der Wartenden. Die Heraustretenden hingegen sind jedesmal neu irritiert, auf einen Schlag so viele Menschen anzutreffen, durch deren Mitte der einzige Weg zurück in die Wirklichkeit führt. Und erst die Blicke. Gleich, ob die Wartenden zuvor in ein Gespräch, in Gedanken oder einen Tagtraum vertieft waren – jetzt schauen sie in das Gesicht eines jeden, der das Kino verläßt, vielleicht daß darin die Wirkung der Vorstellung sich spiegle, für die sie gerade eine Eintrittskarte gekauft. Auch wenn vor ihrem ein anderer Film lief, liegt in den Blicken der Wartenden die Frage, ob sich der Besuch lohnen würde. Er lohnt sich bestimmt, wenn die Heraustretenden selig aussehen. Diese jedoch, aus dem Dunkel des Kinosaals herausgezerrt vor so viele Augen, die auf sie starren, schauen instinktiv zu Boden, geben sich einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck oder nehmen ein Gespräch mit ihrer Begleitung auf, das gerade nicht mit der Bewertung des Films anhebt. Die Wartenden ziehen dennoch ihre Schlüsse. Seligkeit sieht anders aus. Den Film müssen wir uns nicht anschauen. Zum Glück sahen wir kurz danach einen anderen.
    Â»Nach der Schilderung meines Zustands wird der verehrte Leser nachvollziehen können, welche Wirkung der Anblick jenes Türschilds auf mich hatte. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß ich Gott selbst auf dem Türschild von Doktor Riahi sah.« So bedeutend ist ihm der Vorfall, daß Großvater zum ersten und einzigen Mal eine handschriftliche Skizze in das Manuskript einfügt, auf der die Straßen am Teheraner Tor eingezeichnet und die Lage der beiden Krankenhäuser, seines eigenen Hauses sowie des Hauses von Doktor Riahi vermerkt sind, Schauplatz einer Offenbarung. Kürzlich las Großvater das Buch eines hochrangigen religiösen Gelehrten, in dem es um die Frage geht, woran Gottes Wirken zu erkennen sei. Der Gelehrte zitierte die Frage eines anderen, ebenso hochrangigen Gelehrten, ob die Erfindung des Flugzeugs die leibliche Himmelfahrt des Propheten erklären könne. Nein, antwortete der eine dem anderen Gelehrten, denn bei der Himmelfahrt habe der Prophet in äußerst kurzer Zeit eine äußerst weite Strecke zurückgelegt. So schnell könne ein Flugzeug niemals fliegen. »Beides, die Frage und die Antwort, erstaunten diesen Analphabeten sehr. Ich wunderte mich, daß zwei hochstehende und verehrungswürdige Autoritäten auf dem Gebiet der Theologie auf der Suche nach einem Beweis für die offenkundige

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