Dein Name
hatte sie ihn am Wochenende oder sogar an den beiden Wochenenden zuvor nicht besucht und GroÃvater länger als üblich niemanden gehabt, der ihn versorgte. Er lag röchelnd in einer Ecke seines Zimmers, neben sich auf dem Teppich eine Tüte Brot und ein Wasserkanister, in einer anderen Ecke ein Eimer vertrockneter Joghurt. Weil er krank oder einfach nur zu schwach geworden war, um das Haus zu verlassen, hatte er seit drei Tagen nichts anderes gegessen als Brot, das er ins Wasser tunkte, damit seine Zähne es zu kauen vermochten. Der Fahrer findet den Weg nach Tschamtaghi nur mit Mühe, da die Mutter nichts wiedererkennt. Erst als sie sich an einer Tankstelle, deren Zapfsäulen achtundfünfzig Jahre nach der Nationalisierung des Erdöls chinesisch beschriftet sind, zur NebenstraÃe durchfragen, werden die Ortsschilder allmählich vertraut. In Baghbadoran, wo GroÃvater bei einem Bekannten übernachtete, damit er im Morgengrauen auf dem Esel nach Tschamtaghi ritt, gibt es heute Pizzerien, Immobilienmakler und einen Freizeitpark mit Karussell, Riesenrad und Autoscooter. Danach sind Mutter und Sohn endlich zurück in der Landschaft, mit der seit Schmelzles Reise nach Flätz sieben Generationen der Familie die heitersten und aufregendsten Kindheitserinnerungen verbinden, einem Grün, das deshalb so satt ist, weil ringsum die Berge so hungrig nach Farben. Der Melonenhändler am Wegrand weià auf Anhieb, hinter dem wievielten Hügel Tschamtaghi liegt. Der Name existiert also noch, freuen sich Mutter und Sohn, und offenbar nicht nur der Name: Wali Tschamtaghi bâ hendunast, singt ihnen der Händler hinterher: Nach Tschamtaghi niemals ohne Melonen.
Vom vierten Hügel aus entdecken sie GroÃvaters Grundstück, das auf den ersten Blick ganz anders aussieht, als sie dachten, nämlich genauso wie früher. Das Dorf ist natürlich gröÃer und zieht sich den Hang hinauf bis zur StraÃe, hat ein Ortsschild und den Graffitis nach zwei konkurrierende Rap-Bands, neu auch die Ferienvillen auf den umliegenden Hügeln, doch Tschamtaghi selbst, der Garten, scheint noch in der ursprünglichen GröÃe erhalten zu sein, die Lehmmauer und ebenso die Bäume dahinter. Niemand öffnet das Eisentor, das ebenfalls das alte ist. Der Cousin in Isfahan hat sie so eindrücklich vor den aggressiven Bauern gewarnt, daà Mutter und Sohn tatsächlich etwas beklommen ist, als sie die leere Dorfgasse hinaufgehen, die Häuser billig gebaut, die Mauern aus Porenbeton meist unverputzt, aber als die Mutter einen Mechaniker anspricht, den der Sohn unter einem Auto entdeckt hat, will der sie gleich zum Tee einladen. Ja, er kennt den ehemaligen Gutsherrn, möge seine Seele froh sein, und sind Sie nicht dessen Tochter? Gern trinke sie einen Tee, sagt die Mutter, zunächst jedoch möchte sie ihrem Sohn, der Schriftsteller sei im Land der Franken, das Paradies ihrer Kindheit zeigen, sofern die Möglichkeit bestehe. â Und wie die Möglichkeit besteht! erstaunt der Automechaniker Mutter und Sohn und zieht das Rollgitter seiner Garage herunter. Durch ein Loch in der Mauer gelangen sie in den Hof. Von dem Haus, das die Mutter immer noch den Neubau nennt, sind die Grundmauern, Teile des Dachs und die Terrasse übrig. Wenngleich der Fluà nicht mehr so breit ist, weil die neuen Staudämme, sinnvoll oder nicht, den alten Kreislauf des Wassers endgültig zerstört haben, überwältigt die Aussicht auf das vielfarbige Tal und ringsherum die braunen Berge noch immer. Ach ja, die Brise, immer herrschte auf der Terrasse eine Brise, selbst im Sommer konnte es kaum zu heià werden. Wie zwei alt gewordene Alices kehren Mutter und Sohn noch einmal in ihr Wunderland zurück, achten kaum darauf, daà niemand mehr das Gras schneidet, die Trampelpfade an vielen Stellen zugewachsen sind und die Sträucher so sehr wuchern, daà der Automechaniker ihnen hier und dort den Weg mit einem Ast bahnen muÃ. Was sie sehen: daà die Bäume auf dem oberen Plateau noch Früchte tragen, alte Bäume, GroÃvaters Bäume, Aprikosen, Zitronen, Ãpfel, Granatäpfel, Walnüsse, Birnen, Pflaumen. Und was für Früchte! lobt der Automechaniker, als gehörten die Bäume noch Mutter und Sohn. Die alten Picknickplätze, die alten Badebuchten, die alten Kanäle und Wasserbecken, das groÃe Bassin, das sie als Swimmingpool nutzten, die alte Festung aus Lehm,
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