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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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schnatternde Menschen, die mit der Welt erst angefangen haben. Auch sie werden an ihr verzweifeln. Oder nicht einmal das: Sie finden sich ab. Wie nach der Konstitutionellen Revolution wird es auch nach Mossadeghs Nationaler Front wahrscheinlich fünfzig Jahre dauern, bis das Volk sich wieder erhebt. Mitte der siebziger Jahre scheint der Schah das Land fester im Griff zu haben denn je. Nicht nur die Führer, auch unzählige Anhänger der Opposition sitzen in den Gefängnissen ein, aus denen Berichte unvorstellbarer Folter dringen, oder leben verstreut im Exil. Der SAVAK kontrolliert jeden Zipfel des Landes; selbst in den eigenen vier Wänden sollte Großvater besser nicht schlecht über die Monarchie reden, die gerade mit frevelhaftem Pomp ihr zweitausendfünfjähriges Bestehen zelebriert hat, während zwei Drittel der Dörfer ohne Strom und fließend Wasser sind, die einstmals so blühende Landwirtschaft zugrunde geht und die Slums rund um die Städte täglich anwachsen. Hossein ist ermordet, Yazid läßt sich feiern, die Muslime schauen zu. Man muß schon näher an der Gesellschaft sein als Großvater oder die ausländischen Experten, um Mitte der siebziger Jahre die Schwingung des Bebens zu spüren, das bald das Unterste zuoberst kehren wird.
    Wie siebzig Jahren zuvor der Anblick des Franken auf der Vorderbank, die man Loge nannte, lenkt eine merkwürdige Erscheinung in der ersten Sitzreihe Großvater von den trüben Gedanken ab. Es ist ein Mullah, der sich so weit nach vorn beugt, daß der schwarze Turban des Prophetengeschlechts halb zwischen den Knien steckt. Wer ist das nur? fragt sich Großvater, der die meisten Mullahs in Isfahan kennt. Und warum krümmt er sich so, als habe er etwas auf dem Boden verloren? Der Jugendliche mit Frauenfrisur, der neben dem Mullah sitzt, hält so weit Abstand, daß sein Po halb im Gang schwebt, und zieht eine Miene, als würde sein Sitznachbar stinken. Die Freunde und Freundinnen des Jugendlichen, die sich auf den umliegenden Plätzen lümmeln, finden das urkomisch. Als der Mullah sich kurz aufrichtet, um seine Haltung zu verändern, erblickt Großvater das Gesicht: Das ist doch Ajatollah Hadsch Agha Seyyed Morteza, bekannt als Hadsch Agha Mirza Dehkordi, der Freitagsprediger von Isfahan, den es in eine so ungebührliche Gesellschaft verschlagen hat. Um den Freitagsprediger, diesen berühmten und ehrwürdigen Gelehrten, aus seiner mißlichen Lage zu befreien, steht Großvater auf und bietet dem Jugendlichen mit Frauenfrisur an, die Plätze zu tauschen. Der willigt erfreut ein, nur seine Freunde und Freundinnen, die sich über die ungleichen Sitznachbarn gern weiter amüsieren würden, protestieren scherzhaft. Großvater setzt sich neben Hadsch Agha Mirza Dehkordi, wünscht einen guten Tag und versucht ihn mit teilnahmsvollen Worten über die Impertinenz der Jugend zu trösten, über die man sich nicht zu sehr grämen soll. Der Freitagsprediger von Isfahan gibt wortlos zu erkennen, daß es nicht die jungen Leute sind, die ihn am meisten stören, sondern die Popmusik, die bis zum Anschlag aufgedreht ist. »Das läßt sich doch leicht ändern«, sagt Großvater, legt seine Hand auf die Schulter des Fahrers und bittet höflich, das Radio ein wenig leiser zu stellen. »Mit größtem Vergnügen«, antwortet der Fahrer und schaltet das Radio aus. Sofort regt sich im Bus Protest. »Was soll das?« rufen die Jugendlichen und jungen Leute, »stellen Sie das Radio wieder an!« Sosehr ihm ein Auftritt widerstrebt, meint Großvater, eine Erklärung abgeben zu müssen, da schließlich er es ist, der den Fahrer gebeten hat, die Musik leiser zu stellen. So steht Großvater noch einmal auf, um eine Ansprache zu halten, obschon nur in einem Linienbus der Firma TBT , aber mit genauso weichen Knien wie als geschaßter Kandidat der Nationalen Front: »Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen. Verehrte Mitbürger und Mitbürgerinnen, liebe Fahrgäste! Wir sind doch alle Muslime. Deshalb sollten wir ein wenig Rücksicht nehmen auf diesen hochstehenden Gelehrten, der ein Nachfahre des Propheten ist und in unserer schönen Stadt Isfahan das Freitagsgebet leitet, Hochwürden Ajatollah Hadsch Agha Seyyed Morteza, den Sie als Hadsch Agha Mirza Dehkordi alle kennen werden, und unser Verhalten ein wenig anpassen. So gut ich das

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