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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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er seinen Kindern nie und nimmer die Ausbildung ermöglicht, von der noch seine fünfzehn Enkel profitieren, die in alle Welt verstreut sind. »Was machen Menschen in so einer Situation, die nicht an Gott glauben?« fragt er in seiner Selberlebensbeschreibung: »Zu wem nehmen sie Zuflucht?« Deshalb heben mystische Reisen stets mit der größten Verzweiflung an, einer existentiellen Krise und der größten Unsicherheit, weil dem Ich erst seine Grenzen aufgezeigt werden müssen, bevor es von sich läßt. Die absolute Grenze und damit die umfassendste Erfahrung der Kontingenz bildet zweifellos der Tod, der dem Roman, den ich schreibe, deshalb die unvorhersehbare Struktur gibt, der Tod, insofern die Ohnmacht nicht nur das Wie betrifft, sondern das Sein selbst: »Der Tod ist der eigentliche Maschinenmeister der Erde«, heißt es in Jean Pauls Selberlebensbeschreibung : »Er nimmt einen Menschen wie eine Ziffer aus der Zahlenreihe vorn, mitten, oder hinten heraus und siehe, die ganze Reihe rückt in eine andere Geltung zusammen.« Aber es muß nicht der Tod sein, der einem alle Absichten aus der Hand schlägt wie ein volles Tablett. Eine Verspätung von anderthalb Stunden genügt. Sie genügt, wenn ein Friedenskuß erst einen halben Tag zurückliegt, sie genügt, um vom Flughafen in die Wohnung zu rasen, Kulturbeutel, T- Shirts, Sandalen, Badehose in den Koffer zu werfen und mit dem gebrochenen Bein ins Büro zu humpeln, wo ich auf die Schnelle zum letzten Band der Dünndruckausgabe von Jean Paul griff, den ich gar nicht mehr zu Ende lesen wollte, weil die späten Romane mich bis dahin enttäuscht hatten wie von den Germanisten vorausgesagt, und nahm ein Taxi zurück zum Flughafen, wo die Frau trotz Ferienbeginn einen Platz im ausgebuchten Flugzeug sichern konnte, weil ein anderer Passagier aus Zufällen, die einen eigenen Roman ergäben, zu spät am Gate erschien. Als ich packte, hatte ich noch keine Ahnung, ob in der Maschine ein Platz frei würde, und war gerade in meiner Willenlosigkeit so fröhlich.
    Recht überlegt, sieht so der Himmel aus: ein Holzdach in der Größe eines Fußballplatzes, Neonleuchten so grell, daß kein Schatten sich behauptet, der Boden und die brusthohen Wände aus ungestrichenem Beton. An den Wänden endlose Reihen von Brot, Vorspeisen aller Farben, Auberginen, eingelegtes Gemüse, Wurst und Käse, Pasteten, Oliven, Salat mit Saucen, französisch, amerikanisch, sowie Essig und Öl fürs eigene Dressing, Pizza, Pasta mit und ohne Meeresfrüchte, in Tomaten- oder Sahnesauce, Risotto, gegrilltem Fisch oder Fleisch, als Beilage Kartoffeln, Bohnen und Spinat, für den Nachtisch Obst, Torte, Schokoladencreme, Eis. Mitten im Raum Tische mit leeren Karaffen, darüber Hähne, aus denen Wasser und Wein fließen, Wasser mit und ohne Kohlensäure, Weißwein und Rotwein. Dosen mit Bier, Fruchtsäfte und Coca-Cola liegen im Kühlfach. Ein Automat zaubert per Knopfdruck Kaffee in sieben Variationen hervor, überdies Teewasser, Kakao und warme Milch. Die Kahlheit der Speisehalle, die einzig für die wenigen Deutschen im Mißverhältnis zu dem gehobenen Standard der Ferienanlage steht, macht deutlich, daß es hier nur ums Fressen geht, um die möglichst effektive Bereitstellung möglichst vieler verschiedener, möglichst frisch zubereiteter Speisen. Keine Ablenkung am Ende der Nahrungskette. Kein Dekor. Pure Effizienz. Die Kellner sind beinah unsichtbar. Ihre Aufgabe beschränkt sich darauf, die Essensplatten auszutauschen und die halbvollen Teller abzuräumen, ohne daß die Urlauber wechseln. Außerdem kontrollieren sie diskret die Armbänder, die anzeigen, ob die Urlauber Halb- oder Vollpension gebucht haben. Weil legale Arbeit auch in Südeuropa nicht mehr billig ist, wurde die Essenszufuhr weitgehend automatisiert. Die Obszönität ist unverstellter als sagen wir in einem ägyptischen Ferienresort, wo man mit seinem Bediensteten rasch ein Vertrauensverhältnis entwickelt, das über den Gegensatz von Reichtum und Armut hinwegtäuscht, über Herrschaft und Knechtschaft. Wie im Paradies von den Trauben bedient sich hier jeder selbst. Die Assoziation kam dem Urlauber wegen der Halle. Sie sieht wie die Sammellager der Flüchtlinge aus, die an den Rändern Europas aus den Flüssen steigen, aus den Containern kriechen, lebend an die Küsten

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