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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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was es mit dem Koran nicht auf sich hat – daß er nicht ein Buch ist oder nicht nur, das man aufschlägt und liest, um Wegweisung zu finden, nachvollziehbare Geschichten oder jedenfalls brauchbare Informationen.
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    Nasr Hamid Abu Zaid (10. Juli 1943 Quhafa; 5. Juli 2010 Kairo) ( Bildnachweis )
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    Neben unserer Wohnung am tumultuarischen Opernplatz mitten in der Mitte der Stadt lag eine Moschee, deren mannsgroßer Lautsprecher an meinem Balkon angebracht war. Die Moschee hatte einen Sänger, der oft und vor allem jeden Morgen vor dem Frühgebet, also praktisch nachts, vor Sonnenaufgang, lange den Koran vortrug. Anfangs wachte ich noch jedesmal auf, ärgerte mich oder nahm mir vor, das Zimmer zu wechseln, aber nach und nach ging der Koran in meinen Träumen auf und bereitete mir im Dämmerzustand zwischen Schlafen und Erwachen ein, ja, so muß ich es nennen, ein paradiesisches Erleben, so friedlich und entrückt wie auf Wolken. Die Moschee hatte einen Prediger, der täglich in höchster Tonlage und furchterregender Dramatik aus demselben Lautsprecher kreischte. Alles, was mir am Islam Unbehagen oder gar Abscheu bereitet, Aggressionen und die Reduzierung allen Lebens auf richtig und falsch, erlaubt und verboten, himmel- oder höllenwärts, verbinde ich mit dieser Stimme, wegen der ich bis zum Ende des Studienjahres in Kairo dennoch mit meinem Zimmer haderte.
    Abu Zaid erklärte mir beides, den Gesang und das Geschrei und wie sie zusammenhängen. Anfang der neunziger Jahre kursierte sein Buch Der Begriff des Textes unter religiös interessierten Intellektuellen als literaturwissenschaftliche Grundlegung einer aufgeklärten Koranwissenschaft. Ich sah es auf dem Nachttisch meiner damaligen Freundin und begann noch in ihrem Bett darin zu lesen, ohne daß ich bereits Arabisch verstand. Mit dem Buch von Abu Zaid, durch das ich mich Seite um Seite arbeitete, lernte ich es, lernte es so gut, daß ich gegen Ende des Studienjahres wagte, ihn um ein Interview zu bitten. Ich betrat erstmals den Campus der altehrwürdigen Kairo-Universität mit ihren riesigen Palmen und gelblichen Gebäuden, denen man trotz der Überfüllung, des bröckelnden Putzes und der Verwahrlosung, in die sich das Land ergeben zu haben schien, noch den Enthusiasmus und die Neugier einer Gründerzeit anmerkte, den Aufbruch Arabiens in die Moderne, und fragte mich durch die Korridore und Dozentenbüros, bis ich ihn unter anderen, älteren Kollegen sofort erkannte, einen kleinen, damals noch nicht ganz so dicken, glattrasierten Mann mit großer Hornbrille und kurzen krausen Haaren, hoher Stirn und breitem Mund, unter den Kairiner Bildungsbürgern eine ländliche Erscheinung, wie ich vermutete und bald bestätigt bekam, aufgewachsen auf dem unterägyptischen Dorf, Halbwaise, mit sieben Jahren den Koran auswendig und so weiter, ein noch viel weiterer Weg als meiner an die Kairo-Universität.
    Ich hatte ein Aufnahmegerät dabei, ohne Idee, wer an einem Interview mit einem Korangelehrten interessiert sein könnte, den im Westen nicht einmal die Korangelehrten kennen, vielleicht nur als Vorwand oder um mich wichtig zu machen, und stellte es auf einen langen Tisch, einen Besprechungstisch, glaube ich, der das Durchgangszimmer mit seinen kahlen beigegrauen, natürlich abgeblätterten Wänden voller Flecken fast ausfüllte, so daß die Stühle aus dunkelgrauem Eisenrohr mit Sitzpolster aus Plastik auf der einen Seite des Tisches aufeinandergestapelt worden waren, damit man überhaupt durchkam. Ich weiß nicht mehr, ob jemand durchkam, während ich Abu Zaid interviewte, es ist so lange her, ziemlich genau die Hälfte meines Lebens, ich weiß nur noch, daß das Zimmer anfangs voll war und ich mich fragte, wie man sich hier in Ruhe unterhalten könne, und dann war es ganz leer, nur Abu Zaid und ich saßen gedrängt zwischen der abgeblätterten Wand und dem Besprechungstisch auf zwei Stühlen einander zugewandt. Es war offensichtlich, daß ihm meine Fragen gefielen; der Koran als ästhetisches Ereignis ist ägyptischen Intellektuellen, denen Religion nur Religion ist und nicht mehr die Melodie ihres Alltags, keineswegs geläufig, oder die Religion ist nur Religion und alle Melodien des Teufels, damit die gesamte Tradition. Sehr weit voneinander entfernt, aus den denkbar unterschiedlichsten Blickwinkeln hatten wir beide das gleiche

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