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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Selbst die Stücke, die er vor 68 erstmals einspielte, werden erst in den Aufnahmen seit 68 richtig gut. Hört man bis dahin vor allem seine Vorbilder, hört man seither nur Neil Young selbst – mit allem, was die anderen abstößt, uns begeistert und jedenfalls zu einer Entscheidung zwingt: die Fistelstimme, die Gitarrengewitter, das Hohelied der Depression. So paradox es klingt: Das Überraschende an der ersten Folge des Archivs ist, daß sie so wenig Überraschungen birgt. Neil Young habe ich stets als Verfechter des Rohen, Unabgeschlossenen, Improvisierten gerühmt. Vergleicht man jedoch die unterschiedlichen Versionen der gleichen Stücke, sind die Unterschiede vergleichsweise gering. Die Unmittelbarkeit, die Neil Young musikalisch erzeugt, dieser Eindruck, daß jedes Stück nur einmal so klingen konnte und schon die bloße Wiederholung es grundlegend verändern muß, ist höchst artifiziell, wie das Archiv beweist. Und beinah durchgängig sind die Aufnahmen, die es auf eine Platte schafften, schräger, kapriziöser, enervierender als die Aufnahmen, die Neil Young beiseite legte. Noch das Peinlichste, Jammervollste, musikalisch Beschränkteste erweist sich als gewollt. Kann sich also, wer keine Philologie betreiben möchte, den Kauf des Archivs sparen, wenn kaum eine der Neuveröffentlichungen an die bereits erschienenen Interpretationen reicht? Nein! rufen nicht nur die Freunde. Wie bei Caravaggios restaurierter Ursula eine Hand auftaucht, die in keinem Katalog zu sehen, sind auch in den zuvor bereits veröffentlichten Stücken wesentliche Nuancen oder gar eigene Instrumente zu entdecken, wo vorher nur ein Rauschen oder Summen war, hier eine Mundharmonika, dort ein Baßlauf in seiner ganzen Monotonie. Übertroffen werden die neu aufbereiteten Stücke nur von den Livemitschnitten, vorab erschienen oder nicht, auf denen jedes Stück wirklich nur einmal so klingen konnte und schon die bloße Wiederholung es grundlegend veränderte. Die beiden Konzerte, die ich bereits kannte, hob ich mir für die neunte und zehnte Stunde auf der Autobahn auf. In Fillmore East sang er 1970 erstmals die Lieder, die er später auf Harvest veröffentlichte und seither nicht mehr singen kann, ohne daß Tausende mitgrölen. Die Unsicherheit, die Neugier, auch der Stolz, mit denen er sie 1970 vorstellte, geben selbst einem Gassenhauer wie »Heart of Gold« etwas Fragiles, eine Zartheit, die sich nur dort einstellen konnte und damals. Ein Jahr später spielt er sich in der Massey Hall mit Crazy Horse in jene Ekstase, wie sie sonst Mystikern vorbehalten ist oder Propheten: Nie geht es um einen Höhepunkt, wie gewöhnlich in der Kunst als einer Selbstäußerung; als religiöse Form ist ihr Wesen die Wiederholung, die einen aus sich herausträgt. Aber im Gegensatz zu den Freunden würde ich selbstredend nicht von einer Offenbarung sprechen, nur von der unverhofften Gnade, die vertraute Musik zu hören, als wohnte ich der initialen Fügung bei. Den Strafzettel reiche ich dann auch bei der Zeitung ein. Schon bei Moses hat es geblitzt.
    Er soll den Musiker Musiker nennen und nicht wie bisher. Nichts leichter als das: Mit Hilfe des Suchbefehls braucht der Romanschreiber, Moment … keine zwei Minuten. Sonst hat der Bildhauer keine Ratschläge, sein Wohlwollen beinah beschämend, las die ersten Seiten und das Stück über István Eörsi mit seiner schönen, knurrenden Stimme und so langsam, daß es wie zelebriert wirkte, obwohl es nur sein normales Sprechtempo war. Daß er unsicher ist, versteht sich, zugleich neugierig auf alles Weitere, sieht wohl die Konstellation, die der Romanschreiber sich nicht ausgesucht hat, sowie die Notwendigkeit für den Roman, den ich schreibe.

Es gibt nicht viele Menschen, merke ich nach dem Tod von Nasr Hamid Abu Zaid, von denen wir sicher sagen können, daß unser Leben ohne sie grundlegend anders verlaufen wäre. Die meisten, um die wir trauern, waren schon immer da oder haben bestimmte Lebensabschnitte geprägt, wir verbinden mit ihnen unseren eigenen Alltag oder einschneidende Erlebnisse. Vielleicht haben sie, ohne es zu ahnen, zufällig eine Weiche gestellt, die unser Zug kurz darauf passierte. Abu Zaid hat mich auf ein Gleis gesetzt. Mit Anfang Zwanzig studierte ich in Kairo Arabisch und begann zu ahnen, was es mit dem Koran auf sich hat, oder für den Anfang nur zu begreifen,

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