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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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werden, alles von gleichem Gewicht, das Heilige und die Waschmaschine. Seit er den Umschlag nach Zürich geschickt hat, kommt er sich wie ein Schauspieler vor, der allein auf die Bühne gesabbert, der sich ausgezogen und masturbiert, der von seinen banalsten Sehnsüchten oder unappetitlichsten Phantasien erzählt hat, und nach zwei Stunden merkt, daß er nur gesabbert oder sich ausgezogen und masturbiert, von seinen banalsten Sehnsüchten oder unappetitlichsten Phantasien erzählt hat, nichts weiter. Nicht einmal grausam ist seine Entblößung geworden, nicht einmal zum Ekel hat es gereicht. Hoffentlich sitzt im dunklen Parkett niemand mehr, dächte der Schauspieler vermutlich, hoffentlich sind längst alle gegangen. Und am allerpeinlichsten ist ihm, daß er einer Mail entgegenbibbert wie ein Jugendlicher der Antwort des geliebten Mädchens; alle halbe Stunde geht er auf die Knie, beugt sich fast bis zum Boden und stöpselt den Laptop an die Telefonbuchse, um nachzuschauen, ob der Verleger aus Zürich endlich gemailt hat. Gäbe der Romanschreiber jemals ein Interview zu dem Roman, den ich schreibe, würde sich der Zweifel großartig machen. Bei Lesungen würde er genau diesen Absatz auswählen – seht her, so sehr habe ich mich gequält, aber nicht wahr?, es ist gut, oder?, es ist peinlich, ja, aber es ist gut, es ist gut, indem es peinlich ist. Dabei ist es einfach nur beschissen, und alle Mühe umsonst. Könnte es nicht gerade gut sein, fängt er schon wieder an, sich selbst Mut zu machen, könnte es nicht gerade gut werden, weil er sagt, daß es beschissen und alle Mühe umsonst sei? Nein, der neue Zaubertrick, den Zweifel zu vertreiben, indem er ihn ausspricht, funktioniert nicht. Der Zweifel ist immer noch da und behauptet, daß es nur eine Frage der Zeit sei, bis der Cursor des Laptops den Roman, den ich schreibe, in den Müllkorb zieht. Aber stopp, sagt der Romanschreiber dem Zweifel, da täuschst du dich. Was immer du auch vorbringst, die Toten müssen In Frieden ruhen.
    Nun ist Hölderlin auch noch der Grund, daß der Leser in seinem ungefähr zwanzigsten Jahr in Köln zum ersten Mal an einem 11. November gegen 11:11 Uhr in der Altstadt unterwegs war. Er spazierte stadtauswärts am Rhein, als ihm einfiel, daß in der Packstation im Hauptbahnhof einer von über zehntausend Titeln liegt, die die Internationale Hölderlin-Bibliographie allein für den Zeitraum zwischen 1984 bis 1994 verzeichnet. Gerade wollte er die Treppen zum Dom hochgehen, da verleitete ihn die Neugier, einen Schritt in die Gassen zu tun. Sofort drückten ihn drei Fünfzigjährige die clownsrot bemalten Lippen auf die Wangen. Man muß sich das vor Augen halten, genau das: zweihundert Jahre nach Hyperion ist dessen Verfasser verantwortlich, daß sich ein trauriger Leser mit cooler Mütze (die Gattin eines Literaturkritikers, auf den alle viel geben, hatte sie nach der Lesung in Hamburg gelobt) durch schunkelnde Kölner, nein: durch grölende Touristen in Köln schlängelt. Das sind die Wirkungen, die keine Literaturgeschichte festhält. Sie sind unvorhersehbar und scheinen unendlich. Sie, genau sie wären eine Metapher für die Ewigkeit, die den Menschen imallgemeinen und Dichtern im besonderen zugänglich ist, oder sogar ihre Wirklichkeit. Zwei Briefe erhalten: Der eine war an die Reporterin gerichtet, deren Vater gestorben ist, und kam wegen unbekanntem Adressaten zurück. Sie wird doch wohl nicht wegen der Blattkritik entlassen worden sein, durchfuhr es den Kollegen für einen Moment. Nein, das kann nicht sein, das ist selbst für den Roman zuviel, den ich schreibe, und die Reporterin nun wirklich nicht haftbar zu machen für den Eklat. Der andere Brief war vom Versandkaufhaus, das zwar nicht die Bezahlung des Camping-Kühlschranks, aber die Versandkosten anmahnte. Er erwähnt die Briefe, weil sie zuvor erwähnt worden waren oder nochmals erwähnt werden könnten. So setzt sich der Roman, den ich schreibe, ohne Unterlaß fort, nur weil zwischen den Kapiteln keine leere Seite sein darf: Weil das eine da war, folgt das andere hinterher. Mit der Schöpfung ist es vermutlich ähnlich; sie fing noch unverfänglicher an, und jetzt sind wir ein Brief, der wegen unbekanntem Adressaten zurückkommt, oder eine Mahnung vom Versandkaufhaus.
    Der Schreiner, der mit achtundsiebzig Jahren so alt ist wie der Vater und

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