Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
Vom Netzwerk:
gesetzlich vorgeschriebene Ruhephase einhalten. Der deutsche Presseoffizier, den sie inzwischen beim Vornamen nennen, weil der Nachname des Polen von Anfang an zu schwierig war, widerspricht nicht den pessimistischen Analysen, die in der Archivmappe des Berichterstatters liegen. Aber was ist jetzt die Alternative? fragt er nur. Die Batterie des Laptops auf 14 Prozent. Der Photograph hat sich in Russels Bericht aus dem Krimkrieg festgelesen. »Du kömmst, o Schlacht! schon wogen die Jünglinge«, nimmt der Berichterstatter deshalb weiter mit Hölderlin vorlieb: »Hinab von ihren Hügeln, hinab ins Tal, / Wo keck herauf die Würger dringen, / Sicher der Kunst und des Arms, doch sichrer // Kömmt über sie die Seele der Jünglinge, / Denn die Gerechten schlagen, wie Zauberer, / Und ihre Vaterlandsgesänge / Lähmen die Knie der Ehrelosen.« In der Abflughalle von Urgensch sind am 26. November 2006 um 9:14 Uhr die Knie gelähmt vor Kälte, der Vaterlandsgesang ein Schnarchorchester. Wenn der Berichterstatter nur an seinen Koffer käme, könnte er im Nichtraucherbereich etwas anderes als Hymnen lesen, wenn er eine Steckdose fände, wenigstens die Finger in Bewegung halten.
    Bevor er ins Kriegsgebiet flog, hat er den Brief an die Reporterin abgeschickt, deren Vater gestorben ist, mit dem ägyptischen Lehrer und dem Mann der Krebskranken telefoniert, bei dem Soziologen in Frankfurt es nicht wieder versucht, auch nicht beim Onkel in Isfahan. Der Bildhauer in München gab in kurz angebundener Verzweiflung die Leukozyten bekannt, die bei Null seien, bei Null!, was immer das bedeutet. Im Roman, den ich schreibe, scheint es von Siechen und Todkranken zu wimmeln, obwohl es nicht mehr sein dürften als in jedem anderen Leben. Mehr und mehr bedrückt den Romanschreiber, daß er auf das nächste Kapitel wartet, bang wartet, wie sonst?, jedoch wartet. So Gott will ist es keiner von der Liste, aber jemand anderen soll Gott bitte auch nicht wollen. Allgemein ist vom Tod gut reden, daß man ihn akzeptiere und so weiter; man will auch gar nicht dauernd leben und schon gar nicht ewig jung sein. In der Wochenzeitung des deutschen Presseoffiziers las er ein Interview mit einem Sänger, der sich nicht übers Altern grämt, ein selten schönes Interview übrigens, das hat den Romanschreiber überrascht, zumal er den Sänger nicht besonders mag, der damals den Irakkrieg und im Interview das Leben bejahte, obwohl es ihm selten gutgetan. Seit er darauf achtet, stößt der Romanschreiber aller Orten auf Prominente, die souverän mit dem Tod umgehen und seine Furcht kindisch aussehen lassen. Ja, allgemein nimmt auch er die zunehmende Erfahrung als Gewinn wahr. Nur konkret, wenn es heißt, dieser ist bald nicht mehr da oder jene, ist er erschrocken. Seine Aufgabe bringt es mit sich, nicht über den Tod, sondern immerfort über Tote nachzudenken, die bisherigen und die künftigen. Ja, er glaubt es, das Leben ist ein Fest, wie der Sänger im Interview sagte, oder kann ein Fest sein, nur ist der Romanschreiber fürs Abräumen zuständig. Und mag ihn die Frage quälen, wen das nächste Kapitel bedenkt, ist er sich bewußt, daß, wenn überhaupt etwas, eben diese Frage für die minimale Spannung im Romansorgt, den ich schreibe. Wenn niemand als nächstes stürbe, wäre das Buch zu Ende. In der Wochenzeitung stand auch, daß Schwangeren über fünfunddreißig generell empfohlen wird, das Fruchtwasser untersuchen zu lassen. In einem Prozent der Fälle tötet die Untersuchung den Fötus (oder nannte die Wochenzeitung das Wesen schon Kind?). Selbst bei vierzigjährigen Müttern beträgt das Risiko eines behinderten Kindes nur ein bis zwei Prozent, bei ihnen also weniger. Und was wäre, wenn ihr Kind sich als das eine von hundert herausstellen würde? In welchem Verhältnis von Behinderungsgrad und Schwangerschaftsdauer würden sie sich gegen das Leben entscheiden? Sie können die Antwort nicht vertagen, da sie das Risiko der Fruchtwasseruntersuchung nur dann eingehen würden, wenn die Frau die Schwangerschaft gegebenenfalls abbräche. Besser liest die Frau, die in der Ausdrucksweise der Gynäkologin jetzt schon Achterbahn fahre auf ihren Hormonen, diese Woche nicht die Zeitung, die die pränatale Diagnostik in einen Zusammenhang mit der Euthanasie bringt. Immerhin fällt das Wort Selektion. »Es gibt jetzt schon

Weitere Kostenlose Bücher