Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
Blick jünger, auch ihre Haltung strahlte Dynamik aus. Dann aber trat die tiefstehende Wintersonne hinter einer der großen Kumuluswolken hervor, die wie Flaggschiffe über den blauen Himmel segelten, und in ihrem hellen, unbarmherzigen Licht bemerkte Ulf die feinen Fältchen in Carolines Gesicht und den müden, angestrengten Zug um ihren Mund, der über die Jahre jedoch nichts von seiner Sinnlichkeit verloren hatte. Ihre Lippen waren noch immer leicht aufgeworfen und vermittelten den Eindruck, dass sie beständig schmollte.
Er nahm all diese Eindrücke in Sekundenbruchteilen auf und konnte nicht verhindern, dass sich dabei ein Gedanke in den Vordergrund seines Bewusstseins drängte: Caroline war nicht tot, nicht verkrüppelt – sie lebte und atmete seit fast drei Jahrzehnten auf derselben Welt wie er und hatte ihn das nie wissen lassen. Die Wut darüber traf ihn so unvorbereitet, dass er in der kalten Luft unwillkürlich nach Atem rang. Nach achtundzwanzig Jahren wollte er Caroline nur ein Wort entgegenschreien: »Warum?!?«
Achtundzwanzig Jahre lang hatte ihn dieses Warum gequält, hatte ihn nicht losgelassen und war zu einer Obsession geworden. Er wollte die Frau vor ihm schütteln, schlagen. Er wollte, dass sie den Schmerz spürte, den er erlitten hatte, nachdem sie ihn von einem Moment auf den anderen verlassen hatte. Er wollte, dass sie die Verzweiflung erlebte, die er auf seiner vergeblichen Suche nach ihr empfunden hatte. Mechanisch richtete er sich auf und machte einen Schritt auf sie zu, doch er hatte nicht mit ihrem Hund gerechnet, der noch immer vor ihm stand und nun leise zu knurren begann. Er war eine beeindruckende Erscheinung von der Größe und Statur eines Rottweilers. Das Tier hatte aufgehört zu bellen, als Caroline um die Hausecke gekommen war, hatte Ulf aber nicht aus den Augen gelassen und machte jetzt drohend einen Schritt auf ihn zu. Ulf ballte seine Hände in den dicken Handschuhen zu Fäusten und kämpfte um Beherrschung.
Caroline pfiff kurz und scharf. Der Hund zögerte, gehorchte dann aber und trabte zu ihr, wo er wachsam stehen blieb. Ulf wartete nicht länger. Mit einem Ruck wandte er sich ab, stieg in sein Auto und fuhr ohne einen einzigen Blick zurück davon.
Erst eine Dreiviertelstunde später und nach beinahe vierzig Kilometern halsbrecherischer Fahrt auf teils eisglatter Straße hielt er in einer kleinen Ansammlung von Häusern vor einem Gasthof. Er ließ den Motor laufen und lehnte sich mit geschlossenen Augen auf dem Fahrersitz zurück. Er schwitzte, und vom Nacken aus zog ein stechender Schmerz in seinen Hinterkopf, aber seine Wut hatte nachgelassen. Es gelang ihm, wieder zu denken. Zu analysieren. Er war nicht der Einzige in seiner Familie, der zu Jähzorn neigte. Ulf atmete tief durch. Was wäre geschehen, wenn der Hund nicht gewesen wäre? Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Hätte er Caroline etwas angetan? Wieder sah er sie dort stehen, an der Hausecke. Sie hatte ihn angestarrt wie eine Erscheinung. Vielleicht hätte er nicht unangemeldet auftauchen sollen. Woher nahm er die Gewissheit, dass sie ihn sehen wollte? Nur weil sie nach ihm gefragt hatte? Sie hatte Zeit genug gehabt, mit ihm Kontakt aufzunehmen, und hatte es nicht getan.
Er stellte den Motor ab, stieg aus und stapfte durch den Schnee auf den Gasthof zu. Er brauchte einen Kaffee. Durch die Fenster sah er Licht brennen, doch die Türen waren verriegelt. Ulf klopfte, rüttelte daran und trat schließlich frustriert dagegen. Nichts tat sich, nur ein Hund bellte in einem der anderen Häuser. Fluchend ging Ulf zu seinem Wagen zurück und klopfte sich beim Einsteigen den Schnee von seinen Stiefeln. Er starrte noch eine Weilte missmutig auf den Eingang des Gasthofs in der Hoffnung, dass sich der Inhaber besann, aber es rührte sich nichts. Stattdessen begann es zu schneien. Es war kalt genug, dass die dicken weißen Flocken auf seiner Windschutzscheibe liegen blieben. Graues, diffuses Licht breitete sich im Wageninneren aus, und nach wenigen Minuten war Ulf von der Außenwelt isoliert. Er nahm sein Handy aus der Mittelkonsole und schaltete es ein. Drei Anrufe waren eingegangen. Zwei von Björn, einer von Maybrit.
Er war immer noch wütend. Keine gute Basis, um noch einmal zu Caroline zu fahren. Dabei war er nur deshalb hergekommen. Er musste mit ihr sprechen, musste erfahren, was damals geschehen war. Dann würde er zurück nach Stockholm fahren und sein Leben wieder aufnehmen. Es dauerte eine Weile, bis
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