Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
…«
»Wenn das die Sicherheit ist, die du brauchst, werde ich sie dir geben. Ich werde da sein und warten, so lange, wie es eben dauert.« Er atmete tief durch. »Ich habe achtundzwanzig Jahre auf dich gewartet …«
Sie schloss die Augen und schlug die Hände vors Gesicht. »Hör auf«, flüsterte sie. »Bitte, hör auf.« Sie hatte ihn verlassen, ihm seine Tochter vorenthalten. Sie hatte einen Menschen umgebracht. Was ist, wenn ich deinen Antrag annehme?, wollte sie ihm entgegenschreien. Schon morgen wird dir es leid tun. Aber sie brachte keinen Ton heraus.
»Lilli …«
Abwehrend hob sie eine Hand. Sie wagte nicht, ihn anzusehen. Wie konnte er sie, ausgerechnet sie, noch immer lieben? Der Rausch der Nacht war vorbei, sie konnten beide wieder klar denken …
Er gab nicht auf. »Du hast mir einmal das Herz gebrochen, Lilli«, hörte sie seine Stimme. »Brich es nicht ein zweites Mal.«
Seine Worte trafen sie, und die Verantwortung, die sie implizierten, zog alle Kraft aus ihr. Ins Gefängnis zu gehen war nie eine Option gewesen. Von Beginn an nicht. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es sein würde, Jahre hinter Gittern zu verbringen, fremdbestimmt in einer Anstalt, in der ihr selbst die Bürgerrechte abgesprochen wurden. Genau geplante Besuche von Ulf, der flüchtige Austausch von Zärtlichkeiten und sinnloses Geplänkel über nichts, weil es nichts zu berichten gab. Jahraus, jahrein. Sie würde grau werden wie die Mauern, hinter denen sie lebte, sie würden sich voneinander entfernen, sie würde spüren, wie sie ihn verlor, jeden Tag ein wenig mehr.
Sie schlug die Augen auf und sah ihn an. »Ich kann das nicht, Ulf«, flüsterte sie. »Ich kann nicht ins Gefängnis gehen.« Sie ließ ihre Finger über das alte Leder des Sofas gleiten, ihr Blick schweifte über die vertrauten Buchrücken in den Regalen. Sie war naiv genug gewesen, zu glauben, sich hier verstecken zu können. Was hatte Andra zu ihr gesagt, als sie ihr die Schlüssel für das Haus gegeben hatte? Du wirst dort alles finden, was du brauchst. Wie schwerelos hatte sie sich gefühlt am Tag ihrer Ankunft! Das Haus, der See, die Berge – nichts hatte sich verändert. Sie hatte die Augen geschlossen und den Wind in den Bäumen gehört, das Knacken des Eises und den Ruf des Bussards und sich von diesen Klängen zurücktragen lassen in ihre Kindheit und Jugend, wo sie der jungen Caroline begegnet war mitsamt ihren Wünschen und Träumen. Für ein paar Wochen war es ihr auf wundersame Weise gelungen, die vergangenen drei Jahrzehnte ihres Lebens auszuklammern. Zu vergessen. Selbst Lianne hatte nicht existiert. Dann war Ulf gekommen, und mit ihm waren die Alpträume zurückgekehrt, jene düsteren, kalten Welten, in denen sie ihren Ängsten hilflos ausgeliefert war. Selbst wenn sie gewollt hätte, hätte sie Ulf nicht davon erzählen können, es wäre einer Entblößung ihrer Seele gleichgekommen. Sie starb in diesen Träumen. Und sie tötete. Jedes Mal auf eine andere Art.
»Du kannst nicht davor weglaufen«, unterbrach er ihre Gedanken. »Es wird dich für den Rest deines Lebens verfolgen, wenn du dich nicht irgendwann dem stellst, was du getan hast.« Ungläubig sah sie ihn an und begriff, dass er nicht auf ihre Träume und Ängste anspielte, sondern auf ihren Entschluss, sich nicht der Justiz zu stellen: Ich kann nicht ins Gefängnis gehen.
»Bring deine Strafe hinter dich, und danach bist du frei«, fuhr er fort, ohne von ihrem inneren Aufruhr zu wissen. »Sonst wirst du immer damit rechnen müssen, eines Tages verhaftet zu werden. So willst du nicht leben.«
Nein, so wollte sie nicht leben. Wer wollte das schon. Aber es war zu spät. »Glaub mir, wenn ich rückgängig machen könnte, was geschehen ist, würde ich es tun.« Sie sagte es leise, fast zu sich selbst, und wie immer, wenn sie zuließ, dass ihre Erinnerungen in diese Richtung wanderten, überfiel sie das Entsetzen jenes Abends, als Alexander Molinan sterbend vor ihr auf dem rotbraunen Parkettfußboden seines Büros gelegen und sie mit verzweifeltem Flehen in seinen wässrig blauen Augen angesehen hatte. Wieder hörte sie seinen rasselnden Atem, er hatte versucht zu sprechen, doch kein Ton war über seine Lippen gekommen, nur ein dünnes Rinnsal Blut hatte sich aus seinem Mundwinkel gestohlen und war über sein Kinn hinab auf den Holzboden getropft. Wie paralysiert hatte sie keine zwei Meter von ihm entfernt gestanden, das Gewicht des Revolvers in ihrer Hand gespürt und plötzlich
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