Deine Juliet
er hätte Angst, an Bord zu gehen – fort von seiner Mutter und seinem Zuhause. Wenn ihr Schiff tatsächlich bombardiert würde, fragte er, von wem sollte er sich dann verabschieden? Wie Isola berichtete, ließ Elizabeth sich Zeit und dachte über seine Frage nach. Dann zog sie ihren Pullover hoch und löste den Orden ihres Vaters aus dem Ersten Weltkrieg, den sie ständig trug, von ihrer Bluse.
Sie hielt ihn in der Hand und erklärte Eli, das sei ein magisches Abzeichen, und solange er es trage, könne ihm nichts Böses widerfahren. Dann ließ sie ihn zweimal darauf spucken, um den Zauber heraufzubeschwören. Isola sah Elis Gesicht über Elizabeths Schulter hinweg und sagte später zu Eben, es habe dieses Leuchten gehabt, das nur Kindern im Stand der Unschuld gegeben sei.
Von allem, was während des Kriegs geschehen ist, war das – die eigenen Kinder fortzuschicken, in der Hoffnung, sie so in Sicherheit zu bringen – gewiss das Furchtbarste. Ich weiß nicht, wie sie es ausgehalten haben. Es widerstrebt dem animalischen Instinkt, die eigene Brut zu schützen. Allmählich bin ich die reinste Bärenmutter, was Kit angeht, und habe sie ständig im Auge, selbst wenn ich sie gerade nicht im Auge habe. Ist sie auch nur annähernd in Gefahr (was häufig der Fall ist, so gern, wie sie klettert), sträuben sich mir die Nackenhaare – bisher wusste ich gar nicht, dass ich überhaupt Nackenhaare habe –, und ich eile zu ihrer Rettung. Als ihr erklärter Feind, der Neffe des Pfarrers, mit Pflaumen nach ihr warf, schrie ich ihn wutentbrannt an. Und ein seltsames, unfehlbares Gefühl sagt mir stets, wo sie ist, so unfehlbar wie mein Wissen darum, wo meine Hände sind – und sollte es mich je im Stich lassen, wäre ich krank vor Sorge. Das sind die Mechanismen, die unsere Gattung überleben lassen, schätze ich,doch der Krieg ist grausam dazwischengefahren. Wie haben die Guernseyer Mütter weitergelebt, ohne zu wissen, wo ihre Kinder waren? Ich kann es mir nicht vorstellen.
Liebste Grüße,
Juliet
PS: Wie wäre es mit einer Flöte?
Juliet an Sophie
9. August 1946
Meine allerliebste Sophie,
was für wunderbare Nachrichten – ein zweites Baby! Großartig! Ich hoffe sehr, Du musst diesmal keine trockenen Kekse essen und Zitronen auslutschen. Ich weiß, Euch zweien ist es herzlich gleichgültig, wer/wie/was es wird, aber ich bin entschieden für ein Mädchen. Und stricke schon an einem klitzekleinen Babyjäckchen samt Mütze aus rosa Wolle. Alexander ist natürlich außer sich vor Freude, aber wie steht es mit Dominic?
Ich habe Isola Deine Neuigkeiten mitgeteilt und fürchte, sie wird Dir eine Flasche von ihrem Tonikum für werdende Mütter zusenden. Bitte, Sophie – trink keinen Tropfen davon und wirf sie nirgendwohin, wo sich am Ende die Hunde darüber hermachen. Gut möglich, dass Isolas Tinkturen keine unmittelbar tödlich wirkenden Beigaben enthalten, aber meines Erachtens solltest Du da kein Risiko eingehen.
Mit Deinen Fragen nach Dawsey bist Du bei mir an der falschen Adresse. Stelle sie Kit – oder Remy. Ich sehe den Mann kaum noch, und wenn, dann schweigt er. Und sein Schweigen hat nichts Romantisches oder Grüblerisches an sich wie beiMr. Rochester, nein, es ist ernst und staubtrocken und signalisiert nichts als Missbilligung. Ich weiß nicht, wo der Hase im Pfeffer liegt, ich weiß es wirklich nicht. Als ich nach Guernsey kam, begegnete Dawsey mir freundlich. Wir sprachen über Charles Lamb und spazierten gemeinsam über die ganze Insel – und ich genoss seine Gesellschaft in vollen Zügen. Aber dann, nach diesem schrecklichen Abend auf der Landspitze, ist er verstummt – zumindest mir gegenüber. Es ist eine arge Enttäuschung. Ich vermisse das Gefühl, dass wir einander verstehen, glaube aber langsam, dass ich es mir die ganze Zeit nur eingeredet habe.
Da ich selbst nicht schweigsam bin, machen mich Menschen, die es sind, neugierig. Und da Dawsey nicht über sich spricht – eigentlich spricht er überhaupt nicht, jedenfalls nicht mit mir –, blieb mir nichts übrig, als Isola zu seinen Schädelhöckern zu befragen, um etwas über seine Vergangenheit zu erfahren. Isola hat allerdings inzwischen die Befürchtung, dass die Buckel doch lügen. Als Beweis führt sie Dawseys Knoten an, der über die Neigung zu Gewalttaten Aufschluss gibt und nicht so groß ist, wie er sein sollte, nachdem Dawsey doch Eddie Meares um ein Haar totgeschlagen hätte!!!!
Die Ausrufungszeichen
Weitere Kostenlose Bücher