Deine Juliet
dabei zu sein, und die Gelegenheit habe ich mir natürlich nicht entgehen lassen. Schlag neun erschien Sir William auf der Küchentreppe. Als ich ihn in seinem schlichtenschwarzen Anzug so sah, überkam mich die Panik – wenn nun Großmama Pheens Briefe nur die Machwerke eines phantasiebegabten Bauern sind? Was würde Sir William mit uns – und Dir – anstellen, wenn wir ihn unnötig belästigt hätten?
Er nahm mit grimmiger Miene zwischen Isolas Bündeln von Schierling und Ysop Platz, wischte sich mit einem blütenweißen Taschentuch die Finger ab, klemmte sich ein kleines Brillenglas vor ein Auge und entnahm der Keksdose gemächlich den ersten Brief.
Es folgte ein langes Schweigen. Isola und ich sahen einander an. Sir William nahm einen weiteren Brief aus der Keksdose. Isola und ich hielten den Atem an. Sir William seufzte. Wir zuckten zusammen. «Hmmmm», murmelte er. Wir nickten ihm aufmunternd zu, aber es half nichts – wieder herrschte Schweigen. Wochenlang.
Dann sah er uns an und nickte.
«Ja?», fragte ich und wagte kaum zu atmen.
«Es freut mich, Ihnen bestätigen zu können, dass Sie im Besitz von acht Briefen von Oscar Wilde sind, Madam», sagte er mit einer Verbeugung in Richtung Isola.
«DEM HIMMEL SEI DANK!», plärrte Isola los und schloss Sir William in die Arme. Er blickte zunächst einigermaßen verdutzt, aber dann lächelte er und tätschelte ihr unbeholfen den Rücken.
Ein Blatt nahm er mit, um sich die Bestätigung eines weiteren Experten einzuholen, was jedoch, wie er mir sagte, eine «reine Formsache» sei. Er war sich seines Urteils sicher.
Er wird Dir vermutlich nicht erzählen, dass Isola ihn auf eine Probefahrt mit Mr. Lenoux’ Motorrad mitgenommen hat – Isola am Lenkrad, er im Beiwagen, Zenobia auf seiner Schulter. Sie bekamen einen Strafzettel wegen rücksichtslosen Fahrverhaltens, den zu begleichen Sir William, wie er Isola versicherte, als «Privileg» betrachtete. Wie Isola richtig sagt, für einen angesehenen Graphologen ist er ein durchaus netter Kerl.
Aber er ist kein Ersatz für Dich. Wann kommst Du her, um die Briefe – und nebenbei auch mich – mit eigenen Augen zu begutachten? Kit wird Dir zu Ehren einen Stepptanz vorführen, und ich werde einen Kopfstand machen. Das kann ich nämlich immer noch.
Nur um Dich auf die Folter zu spannen, enthalte ich mich weiterer Nachrichten. Du musst schon kommen und Dich selbst kundig machen.
Liebste Grüße,
Juliet
Telegramm von Billee Bee an Juliet
20. August 1946
Mr. Stark plötzlich nach Rom abberufen. Bat mich, dieses Wochenende die Briefe bei Ihnen abzuholen. Bitte kabeln, ob es Ihnen passt, sehne mich nach ein wenig Erholung auf entzückender Insel. – Billee Bee Jones
Telegramm von Juliet an Billee Bee
Es ist mir ein Vergnügen. Bitte Ankunftszeit wissen lassen, dann stehe ich bereit. – Juliet
Juliet an Sophie
2. August 1946
Liebe Sophie,
Dein Bruder gebärdet sich neuerdings wirklich ein wenig zu majestätisch für meinen Geschmack – er hat eine Botin entsandt, die Oscar Wildes Briefe für ihn in Empfang nehmen soll! Billee Bee kam mit dem Postschiff am Vormittag. Nach der stürmischen Überfahrt war sie wacklig auf den Beinen und grün im Gesicht – aber tatendurstig! Auf das Mittagessen musste sie verzichten, doch bis zum Abendessen hatte sie sich erholt und erschien als munterer Gast bei der heutigen Versammlung des Buchclubs.
Es gab allerdings einen heiklen Moment – Kit scheint sie nicht zu mögen. Sie wich zurück und sagte «Ich gebe keinen Kuss», als Billee dazu ansetzte. Was tust Du, wenn Dominic unhöflich ist – schimpfst Du gleich mit ihm, was alle Anwesenden verlegen macht, oder wartest Du, bis Ihr allein seid? Billee Bee hat es elegant gemeistert, das spricht für ihre guten Manieren, aber nicht für die von Kit. Ich habe gewartet, doch ich wüsste gern Deine Meinung dazu.
Seit ich weiß, dass Elizabeth nicht mehr lebt und Kit Waise ist, habe ich mir Gedanken über ihre Zukunft gemacht – und über meine eigene Zukunft ohne sie. Ich glaube, ich ertrüge es nicht. Ich werde einen Termin mit Mr. Dilwyn vereinbaren, wenn er und Mrs. Dilwyn aus dem Urlaub zurück sind. Er ist ihr gesetzlicher Vormund, und ich möchte mit ihm über die Möglichkeiten sprechen, Kit als Mündel oder zur Pflege bei mir zu behalten. Natürlich möchte ich sie am liebsten einfach adoptieren, aber ich bin mir nicht sicher, ob Mr. Dilwyn eine nicht mehr ganz junge Dame mit
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