Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Deine Juliet

Deine Juliet

Titel: Deine Juliet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Mary Ann / Barrows Shaffer
Vom Netzwerk:
wechselhaften Einkünften und ohne festen Wohnsitz als passenden Elternersatz betrachtet.
    Ich habe hier noch mit niemandem darüber gesprochen, auchnicht mit Sidney. Es gibt so viel zu bedenken – was würde Amelia dazu sagen? Würde Kit die Vorstellung gefallen? Ist sie alt genug, um das zu entscheiden? Wo würden wir leben? Kann ich sie von dem Ort fortnehmen, den sie liebt – für London? Für ein Stadtleben mit all seinen Einschränkungen, statt Boot zu fahren und Abschlagen auf Friedhöfen zu spielen? In England hätte Kit Dich, mich und Sidney, aber was wäre mit Dawsey und Amelia und der ganzen Großfamilie, die sie hier hat? Sie sind unmöglich zu ersetzen. Kannst Du Dir eine Londoner Kindergärtnerin mit Isolas Stil vorstellen? Natürlich nicht.
    Ich grüble ständig über all diese Fragen nach und weiß nur eins: dass ich immer für Kit da sein möchte.
     
    Liebste Grüße,
    Juliet
     
    PS: Wenn Mr.   Dilwyn sagt, nein, auf keinen Fall, dann schnappe ich mir Kit vielleicht und verstecke mich mit ihr in Deiner Scheune.

Juliet an Sidney
    23.   August 1946
    Lieber Sidney,
    nach Rom abberufen, soso? Hat man Dich zum Papst gewählt? Es sollte schon etwas mindestens so Dringendes sein, um zu entschuldigen, dass Du Billee Bee geschickt hast, statt die Briefe selbst zu holen. Und ich verstehe nicht, wieso Abschriften nicht ausreichen. Billee sagt, Du bestehst darauf, die Originale zu sehen. Jedem anderen auf der Welt würde Isola so ein Ansinnen verwehren, aber für Dich macht sie eine Ausnahme. Bittesei ganz schrecklich vorsichtig mit ihnen, Sidney – sie sind ihr ganzer Stolz. Und sieh zu, dass Du sie
persönlich
zurückbringst.
    Nicht, dass wir etwas gegen Billee Bee einzuwenden hätten. Sie nimmt begeistert an allem teil – gerade ist sie draußen und zeichnet Wildblumen. Ich sehe ihr Mützchen im hohen Gras. Ihre Einführung in den Buchclub gestern Abend hat sie in vollen Zügen genossen. Am Ende hielt sie eine kleine Ansprache und bat Will Thisbee sogar um das Rezept für seine Blätterteigpastete mit Granatäpfeln. Da hat sie es mit ihren guten Manieren allerdings zu weit getrieben – wir sahen nichts weiter als einen Klumpen Teig, der nicht aufgehen wollte, in der Mitte eine rötliche Masse unter sich begrub und durch und durch mit schwarzen Körnern gesprenkelt war.
    Schade, dass Du nicht dabei warst, denn der Redner des Abends war Augustus Sarre, und er sprach über Dein Lieblingsbuch, die
Canterbury-Erzählungen
. Als Erstes las er die
Erzählung des Pfarrers
, weil er wusste, wie ein Pfarrer sich seinen Lebensunterhalt verdient – nicht so wie die anderen Burschen in dem Buch: ein Landvogt, ein Gutsbesitzer oder ein Gerichtsdiener. Die
Erzählung des Pfarrers
erweckte solchen Abscheu in ihm, dass er die Lektüre nicht fortsetzen konnte.
    Zu Deinem Glück habe ich mir in Gedanken sorgsam Notizen gemacht, darum kann ich Dir seine Anmerkungen im Wesentlichen wiedergeben. Und zwar: Augustus würde niemals eines seiner Kinder Chaucer lesen lassen, es würde sie gegen das Leben im Allgemeinen und Gott im Besonderen einnehmen. Wenn man den Pfarrer so reden hörte, war das Leben ein Pfuhl (oder doch fast), durch den der Mensch, so gut er vermochte, hindurchwaten musste; stets saß ihm dabei das Böse im Nacken und holte ihn ein. (Findest Du nicht, dass Augustus eine poetische Ader hat? Ich schon.)
    Der arme geplagte Mensch muss auf ewig Buße tun oder fasten oder sich mit verknoteten Stricken geißeln. Alles nur, weil er in Sünde geboren ist – und in diesem Stand verweilt bis zurletzten Minute seines Lebens, wenn ihm die Gnade Gottes zuteilwird.
    «Stellt euch das vor, Freunde», sagte Augustus, «ein Leben in Elend, ein Gott, der euch keinen Augenblick durchatmen lässt. Und dann, in euren letzten Minuten   – PUFF!   –, wird euch Gnade zuteil. Na, ich bedanke mich. Und das ist noch nicht alles, Freunde: Der Mensch darf niemals gut von sich denken – das ist ebenfalls eine Sünde, sie heißt Stolz. Freunde, zeigt mir einen Menschen, der sich selber hasst, und ich zeige euch einen Menschen, der seinen Nächsten noch mehr hasst! Denn das muss er – wie kann er anderen etwas gewähren, das er sich selbst versagt – keine Liebe, keine Freundlichkeit, keinen Respekt! Darum sage ich, Schande über den Pfarrer! Schande über Chaucer!» Damit ließ sich Augustus vernehmlich auf seinen Stuhl plumpsen.
    Es folgten zwei Stunden angeregter Diskussion über Erbsünde und Vorbestimmung. Schließlich

Weitere Kostenlose Bücher