Deine Schritte im Sand
über eine Desinfektionsschleuse in einen Vorraum, zu dem nur autorisierte Personen Zutritt haben. Von diesem Zimmer aus kann man die Patienten durch eine Scheibe sehen. Nur durch Glas. Jedes Zimmer hat ein Fenster. Neben dem Fenster befindet sich ein Telefon, über das man mit dem Patienten drinnen sprechen kann.
Loïc wird diesen ersten Tag mit Azylis verbringen. Ich warte ein wenig, ehe ich mich vor die Fensterscheibe stelle. Beklommen spähe ich hinein. Sie sind bereits im Zimmer. Loïc macht sich rings um seine Tochter zu schaffen; er überprüft sämtliche Gerätschaften. Azylis schläft friedlich in ihrem Bettchen. Kopfhaube und Maske trägt sie jetzt nicht mehr. Loïc hat ihr einen süßen rosa Strampler angezogen. Es scheint ihr gutzugehen. Mir aber nicht, ich habe meine Gefühle kaum unter Kontrolle. Jetzt, da meine kleine Tochter tatsächlich in ihrem sterilen Zimmer liegt, wird mir erst bewusst, was sie erwartet. Und ich fürchte mich davor. Durch das Telefon klingt meine Stimme wie erstickt. Ich möchte meine Angst nicht an Loïc weitergeben. Vielleicht ist es besser, zu gehen. Ich schicke meinem Töchterchen einen Kuss. Von fern. Sehr fern. Viel zu fern. Dann verlasse ich den Vorraum.
Zwei Etagen tiefer besuche ich Thaïs. Auch sie schläft bereits. Meine Mutter ist bei ihr. Im Augenblick kann ich hier im Krankenhaus nichts mehr tun und kehre nach Hause zurück, um Gaspard in Empfang zu nehmen, wenn er von seinem Spaziergang heimkommt. Unterwegs bleibe ich plötzlich am Straßenrand stehen und weine, bis ich keine Tränen mehr habe. Ich fühle mich einsam und leer. Verzweifelt leer.
SICH AUSZIEHEN . Die Kleidung in einem Schrank verstauen. Die Schuhe ausziehen. Hose und Kittel anziehen. Blaue Überschuhe überstreifen. Sich die Hände desinfizieren. Den Umkleideraum verlassen. Sich die Hände waschen. Sie desinfizieren. Durch die nächste Tür gehen. Den Flur entlanggehen. Die Schleuse betreten. Sich erneut die Hände desinfizieren. Eine Gesichtsmaske aufsetzen und das Haar unter einer Kopfhaube verstauen. Weiße Überschuhe überstreifen. Einen sterilen Kittel anziehen. Nein, umgekehrt. Den Kittel zuerst. Sich die Hände desinfizieren, und alles noch einmal in der richtigen Reihenfolge. Die Tür zum nächsten Raum öffnen, ohne die Hände zu benutzen. Mit den Ellbogen, nicht mit den Händen die vertikalen Plastikstreifen beiseiteschieben und das Einzelzimmer mit Laminar-Air-Flow-Technik betreten. Und dann aufhören zu atmen. Zumindest beinahe.
Das Ritual wiederholt sich jedes Mal, wenn wir Azylis besuchen. Ich brauche sicher nicht zu erwähnen, dass man draußen möglichst nichts vergessen sollte, weil man sonst mit der ganzen Prozedur noch einmal von vorn beginnen muss. Leider habe ich die schlechte Angewohnheit, die Autoschlüssel in meiner Tasche im Umkleideraum zu lassen. Wie oft ist es uns passiert, dass Loïc durch die Gegensprechanlage danach fragen musste, als ich längst bei Azylis im Reinstraum war!
Trotz dieser kleinen Widrigkeiten fügen wir uns gern den Zwängen des Verfahrens. Die extremen Vorsichtsmaßnahmen sind der Preis, den wir dafür bezahlen, bei unserem Baby sein zu können. Dies ist übrigens einer der Vorteile des Klinikaufenthalts in Marseille. Hier ist das Kind nicht in einem sterilen Zelt untergebracht, sondern hält sich in einem richtigen Zimmer auf. Dieses ist zwar klein, aber immerhin ein Zimmer, in das man die Patienten begleiten kann. Es wird durch einen Vorhang aus Plastikstreifen in zwei Hälften unterteilt. Die Hälfte, in der sich der Patient aufhält, besitzt ein vertikales laminares Strömungssystem. In der Zimmerdecke ist ein Filter für die Atemluft untergebracht. Die partikelfreie Luft strömt von oben nach unten und sorgt so für eine sterile Atmosphäre.
Der Feind aller Transplantationen ist mikroskopisch klein. Man bemüht sich, auch die winzigsten Bakterien und kleinsten Viren zu eliminieren. Jede Verunreinigung kann dramatische Folgen haben. Die Anweisungen sind daher strikt: Alles, was in den Raum gebracht wird, muss steril sein, das gilt sowohl für die Saugflaschen als auch für Decken, Kuscheltiere und Spielzeug. Kleidung wird bei 100 Grad Celsius gereinigt und in Plastik eingesiegelt in den Raum gebracht. Azylis’ hübsche Kleidchen nehmen diese Behandlung sehr übel. Aber Eitelkeit ist hier ohnehin fehl am Platz. Ich ersetze die Kleider durch einfache Strampelanzüge.
Die Jagd auf Keime wäre nicht vollständig ohne eine täglich
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