Deine Schritte im Sand
meiner Tochter etwas zu essen geben können. Die Erkenntnis fährt mir in die Glieder. Der Wunsch, das eigene Kind zu ernähren, ist ein Instinkt. Von nun an werde ich eine Maschine programmieren, die Thaïs ihre »Mahlzeiten« verabreicht, und entscheide über Uhrzeit, Dauer und Menge. Ich hasse die Vorstellung, die Kleine mit einer wenig appetitlich aussehenden Flüssigkeit künstlich zu ernähren. Nie wieder wird sie den Geschmack köstlicher Dinge auf der Zunge spüren, nie wieder ein Aroma, etwas Salziges oder Süßes schmecken. Ausgerechnet unser Leckermäulchen …
Die Krankenschwester reißt mich aus meinen düsteren Gedanken, als sie verkündet: »Ich zeige Ihnen jetzt, wie man die Maschine bedient, mit der sie gestopft wird.« Um Himmels willen, wie schrecklich! Wie kann sie nur hinsichtlich der Ernährung eines kleinen Mädchens von »stopfen« sprechen? Thaïs ist doch keine Mastgans! Ich weiß natürlich, dass die Krankenschwester es nicht böse gemeint hat. Die burschikose Krankenhaussprache ist nun einmal keineswegs sentimental. Ich reiße mich mit aller Macht zusammen und bitte die Schwester ruhig, dieses Wort nicht mehr zu benutzen.
Sie entschuldigt sich sehr verlegen. »Aber ›ernähren‹ ist in Ordnung, oder?«, schlägt sie stattdessen vor.
Oh ja. Viel besser. Wir wollen Thaïs’ Würde erhalten. Unter allen Umständen.
ÄUSSERLICH BETRACHTET PASSIERT ÜBERHAUPT NICHTS . Azylis schläft so friedlich in ihrem kleinen Gitterbett wie alle Säuglinge ihres Alters. Ihr Gesichtchen ist rosig, ihr Atem und ihr Puls sind ruhig. Natürlich ist sie von vielen medizinischen Apparaturen umgeben, aber abgesehen von den Geräten scheint alles ganz normal zu sein. Allerdings nur äußerlich betrachtet. In ihrem Innern aber geht es zu wie in Hiroshima. Die Ärzte haben mit der Chemotherapie angefangen. Die Stammzellentransplantation geht folgendermaßen vor sich: Man vernichtet zunächst das gesamte vorhandene, weil kranke Knochenmark, um nach der Stammzellentransplantation auf einem gesunden Fundament wieder aufbauen zu können. Jetzt sind also die Bulldozer im Einsatz. Das Timing ist sehr präzise. Innerhalb von acht Tagen muss Azylis’ gesamtes Knochenmark durch eine besonders wirksame und zerstörerische Chemotherapie vernichtet werden. Die Dosierung spricht für sich: Azylis, die gerade einmal vier Kilo wiegt, erhält die für eine hundert Kilo schwere Person vorgesehene Dosis. Ein weiterer Hinweis auf Obelix?
Wir lassen unsere hübsche kleine Gallierin keine Sekunde allein, beobachten jede noch so winzige Regung und achten auf verdächtige Veränderungen. Aber sie scheint die Tortur gut auszuhalten. Jeden Tag werden wir von den Ärzten über die Erfolge der Chemotherapie in Kenntnis gesetzt. Getreulich berichten sie über die Anzahl »neutrophiler Granulozyten«, »Erythrozyten« und andere Dinge. Uns sagen die medizinischen Fachausdrücke nicht viel, und auch die Werte können wir nicht einordnen. Jedes Mal müssen wir die Fremdworte für uns übersetzen, entschlüsseln und verstehen. Die Medizin sträubt sich offenbar dagegen, allgemein verständlich zu sein. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet das Fachchinesisch, dass sich die Blutzellen rasch verringern und dass Azylis auf die Behandlung anspricht. Bald ist der richtige Augenblick für die Transfusion erreicht.
Aber zunächst schärfen wir unsere Aufmerksamkeit noch einmal. Durch die rapide Abnahme ihrer weißen Blutkörperchen hat Azylis keine Immunabwehr mehr. Sie kommt in die Aplasie-Phase, in der wegen des Mangels an Leukozyten, weißen Blutkörperchen, jede Infektion tödlich enden kann. Sie besitzt keine Abwehrkräfte mehr – sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn.
HEUTE MORGEN HAT AZYLIS IHR FLÄSCHCHEN VERWEIGERT . Und auch am Mittag verzieht sie das Gesicht und weint bei jedem Schluck. Ich verstehe nicht, was mit ihr los ist. Wir haben weder den Sauger noch die Milch gewechselt. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Der Arzt klärt mich auf. Azylis hat eine Mundschleimhautentzündung und Schwellungen im Mund- und Rachenbereich. Es handelt sich um eine der unangenehmen Nebenwirkungen der Chemotherapie. Bisher hatte sie nur ihre Haare verloren, was aber bei einem sechs Wochen alten Säugling, der ohnehin kaum einen Vogelflaum auf dem Köpfchen hat, kaum auffällt.
Die Entzündung der Mundschleimhaut aber tut weh. Es ist so peinigend, als hätte man ganze Kolonien von Aphten in Mund und Kehle. Azylis will nicht trinken, weil
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