Deine Schritte im Sand
und verdreht sie. Jetzt hat sie keine Angst mehr. Es ist, als hätte sie sich plötzlich der Küsse erinnert, mit denen wir sie als Neugeborenes überhäuft haben. Es gibt nichts Besseres als einen Kuss, um jemandem zu zeigen, dass man ihn liebt. Und um sich geliebt zu fühlen.
Ich verlasse die Klinik, um Loïc anzurufen und ihm von dem Ereignis zu berichten. Kaum hebt er ab, als ich auch schon in den Hörer rufe: »Ich habe sie geküsst! Ich habe sie geküsst!« Die Passanten auf der Straße mustern mich halb amüsiert, halb entgeistert. Wenn sie wüssten … Oh ja, diesen Kuss werde ich nicht so schnell vergessen.
WIR ERLEBEN EINEN SCHMETTERLINGSEFFEKT . Eine kleine Ursache mit ausgedehnten Folgen. Das endlich intakte Immunsystem von Azylis hat Auswirkungen auf unser gesamtes Familienleben. Erst auf dem Heimweg wird es mir richtig klar: Die Quarantäne ist aufgehoben. Azylis darf ihr Zimmer verlassen und sich in der Wohnung bewegen, wie es ihr gefällt.
Für sie gibt es jetzt unendlich viel zu entdecken, und sie soll nicht eine Minute verlieren. Ich öffne die Tür, lasse Mantel und Tasche einfach auf den Boden im Flur fallen und mache mit meiner kleinen Tochter eine Besichtigungstour. Fasziniert entdeckt sie eine Welt, die ihr nun nicht mehr vorenthalten bleibt. Jedes Material, jede Farbe, jeder Gegenstand wird ausgiebig betrachtet. Sie weiß schon gar nicht mehr, wohin sie als Erstes schauen soll, und will alles sehen, alles in die Hand nehmen, alles berühren, als könne sie dadurch die Monate der Isolation und der Enttäuschung hinter einer immer geschlossenen Tür aufholen. Oder als wolle sie so viele Eindrücke wie möglich sammeln, ehe sie sich erneut eingesperrt in ihrem Zimmer wiederfindet. Sie weiß noch nicht, dass diese Zeiten vorüber sind. Sie weiß noch nicht, dass sie ihr ganzes Leben vor sich hat, um alles zu genießen. Ihr ganzes Leben.
Aber die Entdeckungen sind noch längst nicht vorbei. Das Beste hebe ich mir für den Schluss auf. Langsam gehe ich auf Thaïs’ Zimmer zu. Von den vielen neuen Eindrücken ganz aufgeregt, zappelt Azylis in meinen Armen. Auf der Schwelle bleibe ich stehen und atme tief durch. Dann treten wir ein.
Azylis hört sofort auf zu zappeln. Sie betrachtet ihre auf dem Bett ausgestreckte Schwester und wirft Thérèse, die am Bett sitzt, einen erstaunten Blick zu. Ich gehe ganz nah mit ihr an Thaïs heran. Sofort beschleunigt sich der Herzschlag von Thaïs, und ihre Augen weiten sich. Sie spürt die Anwesenheit ihrer kleinen Schwester. Und mit einer unendlich sanften Bewegung öffnet sie ihre Hand. Azylis beugt sich mit gerunzelten Augenbrauen und ernstem Gesichtchen nach vorn. Es scheint, als durchsuche sie ihr Gedächtnis nach einer Erinnerung. Und plötzlich greift sie nach der Hand ihrer großen Schwester. Sie lässt sie nicht mehr los. Thaïs und Azylis haben sich erkannt.
Ich überlasse die beiden Hand in Hand und Auge in Auge der freundlichen Obhut von Thérèse, um Gaspard von der Schule abzuholen. Er kennt die gute Nachricht noch nicht. Auf dem Heimweg verkünde ich ihm, dass zu Hause eine schöne Überraschung auf ihn wartet.
»Ein neues Meerschweinchen?«
»Nein, viel besser.«
»Etwas Besseres gibt es nicht. Wenn es kein Meerschweinchen ist, dann weiß ich nicht, ob die Überraschung wirklich so toll ist.«
Als er Azylis mit Thérèse neben Thaïs sitzen sieht, schreit er erschrocken: »He, ihr habt eure Masken vergessen! Und Azylis ist nicht in ihrem Zimmer! Was ist denn hier los? Das geht doch nicht!«
Oh doch, es geht. Ich erkläre ihm, dass alles wunderbar in Ordnung ist und dass Azylis nicht mehr allein in ihrem Zimmer bleiben muss.
Verblüfft starrt er mich an. »Ganz sicher? Ganz wirklich sicher?«
»Absolut sicher«, bestätige ich.
Gaspard stößt einen triumphierenden Schrei aus, stürzt sich auf Azylis, nimmt sie in die Arme und weint vor Glück. Erst jetzt wird mir klar, wie sehr er sie vermisst hat …
Loïc findet uns bei Azylis. Auch er überschüttet sein Töchterchen mit Küssen, mit all den Küssen, die er monatelang zurückhalten musste. Azylis, die bisher so abgeschirmt lebte, muss heute viel Nähe ertragen. Aber sie beklagt sich nicht. Sie genießt jede Liebkosung und lacht vor Glück, als ihre Samtwangen vom rauen Kinn ihres Papas gekitzelt werden.
VON DIESEM TAG AN WIRD UNSER TAGESABLAUF für alle Beteiligten viel einfacher. Wir haben den Eindruck, ein Stück Freiheit zurückgewonnen zu haben. Und wir genießen jede Minute!
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