Deine Schritte im Sand
angenommen. Gaspard war nur sehr widerwillig und nur um der Gesundheit seiner Schwester willen auf diese Lösung eingegangen und hatte darauf gehofft, Ticola spätestens in den nächsten Ferien wiederzusehen. Der Klimawechsel von den milden, mediterranen Temperaturen in Marseille zur rauen, feuchten Bretagne ist dem kleinen Meerschweinchen jedoch zum Verhängnis geworden.
Gaspards Tränen versiegen, ehe der Schmerz wirklich vorüber ist. Er wischt sich die Augen mit dem Ärmel ab und schaut mich mit gerunzelten Augenbrauen an.
»Mama, warum hast du nicht gleich gesagt, dass Ticola tot ist?«
»Aber ich habe es dir doch sofort gesagt, Gaspard. Gleich als ich es erfuhr.«
»Nein, das meine ich nicht. Warum hast du gesagt, dass er uns verlassen hat? Komisch. Du hast doch gewusst, dass er uns nicht verlassen hat. Schließlich kommt er auch nicht mehr zurück. Aber du hast es trotzdem gesagt.«
»Du hast recht. Ich hatte einfach Angst, dir zu sagen, dass er tot ist. Dieses Wort ist schwer auszusprechen, zumindest für uns Erwachsene.«
»Ich glaube, mir ist lieber, wenn du gleich sagst: Er ist tot. Jeder muss sterben. Der Tod ist nicht schlimm. Er ist traurig, aber er ist nicht schlimm.«
WARUM HABEN WIR VERANTWORTUNGSVOLLEN, VERNÜNFTIGEN , weisen Erwachsenen diese schöne Schlichtheit verloren? Wir verhaspeln uns in Doppelsinnigem, Unterschwelligem und in Tabus. Begriffe wie »Tod« verbannen wir aus Scham oder Angst aus unserem Vokabular und machen ihn zu einem unaussprechlichen, ungern gehörten Wort. Und doch ist der Tod eine unwiderlegbare Realität. Gaspard hat es mir auf seine natürliche, direkte Art wieder vor Augen geführt. Ich wollte meinen kleinen Sohn schonen, indem ich mich nicht klar ausdrückte. Doch damit habe ich ihn nur verwirrt. Und in Wirklichkeit brauchte er keinen Schutz, sondern Trost. Es sind nicht die Worte, die verletzen – es ist die Art, wie man sie sagt.
Schon bald steht unserer Familie ein weiterer Tod bevor, dessen Mitteilung ungleich schwieriger wird und sehr viel behutsamer erfolgen muss. Dank unseres Gesprächs weiß ich jetzt, wie ich es Gaspard zur gegebenen Zeit sagen muss. Ich werde viel Mut brauchen, um die richtigen Worte zu finden. Es müssen ehrliche, rückhaltlose Worte ohne falsches Pathos sein. Das bin ich meinem Sohn schuldig. Und seit heute weiß ich, was ich ihm an dem Tag sagen werde, an dem Thaïs von uns geht … Pardon: an dem Tag, an dem Thaïs stirbt.
S IE DÜRFEN SIE JETZT KÜSSEN .« Der Satz hört sich so feierlich an wie bei einer Hochzeit. Aber der Augenblick ist noch viel bewegender als eine Eheschließung. Der Arzt verkündet seine Erlaubnis zusammen mit den Ergebnissen der letzten Bluttests. Das Immunsystem von Azylis hat seine Arbeit in vollem Umfang wieder aufgenommen. Wir dürfen die Masken abnehmen. Als ich heute Morgen in die Klinik kam, hatte ich mit einer solchen Neuigkeit nicht gerechnet. Ich bin absolut überrumpelt. Und völlig durcheinander. Wie ein junges Mädchen beim ersten Kuss.
Mit leicht zitternden Händen nehme ich die Maske ab. Azylis sieht mich erstaunt an. Dann beginnt ihr Kinn zu beben. Ihr Mündchen verzieht sich. Sie mustert mich mit weit aufgerissenen Augen. Sie erkennt mich nicht. Sie hat mich seit mehr als sechs Monaten nicht mehr ohne Maske gesehen. Das ist fast ihr ganzes Leben. Sie kennt weder mich noch irgendjemand anderes ohne Maske. Sie weiß nicht, was ein Mund oder eine Nase ist. Sie kennt nur Augen.
Ich spreche leise zu ihr und halte ihren Blick fest, um ihr Sicherheit zu geben. Der Arzt wiederholt seine Einladung.
»Tun Sie es nur. Küssen Sie sie.«
»Jetzt sofort? Hier? Ich bin noch nicht darauf eingestellt.«
»Aber sicher. Sie können es. Sie ist jetzt ein bisschen verunsichert, aber das wird sie trösten.«
Möglicherweise hört es sich dumm an, aber es ist wirklich so: Ich geniere mich. Wie oft habe ich während der letzten sechs Monate von diesem Augenblick geträumt! Ich nehme Azylis in die Arme, und als meine Lippen die zarten Wangen berühren, gerät mein Herz aus den Fugen. Ich gebärde mich wie eine Bulimikerin bei einem Fressanfall – ich kann einfach nicht aufhören, mich an meiner kleinen Tochter sattzuküssen.
Unter meiner Kusslawine beruhigt sich Azylis. Mit kleinen, sanften Bewegungen tastet sie nach meinen Wangen und meinem Mund, als wäre es etwas sehr Zerbrechliches und nicht real. Schließlich greift sie lachend nach meiner Nase, meinen Lippen, meinem Kinn, knetet herum, zerrt daran
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