Deine Schritte im Sand
will sie nicht hören.
»Lassen Sie Ihre Tochter selbst wählen.«
Nein, das kann ich nicht. Damit bin ich nicht einverstanden. Für mich ist klar, dass Thaïs mich in ihren letzten Lebensminuten bei sich haben möchte. Wie könnte es auch anders sein? Sie ist doch viel zu klein, um diesen Übergang ganz allein zu schaffen. Und doch ahne ich tief in meinem Innern, dass ich auf dem falschen Weg bin. Ich versetze mich an ihre Stelle und übertrage meine Ängste auf sie. Vielleicht hat Thaïs gar keine Angst vor dem Sterben. Sie akzeptiert alle Veränderungen ihres Lebens mit so viel Natürlichkeit. Seit wir um ihre Krankheit wissen, hat sie uns immer wieder demonstriert, dass es ihr Wunsch ist, unser Leben weitergehen zu sehen. Sie will nicht, dass wir um ihretwillen unsere Existenz in der Schwebe halten. Meine ständige Anwesenheit ist nicht nur fehl am Platz – ich dränge mich Thaïs sogar auf.
Vielleicht möchte sie manchmal allein sein. Sie kann es nicht sagen, und selbst wenn sie sich ausdrücken könnte, würde sie es möglicherweise nicht wagen. Kein Kind wagt es, seine Eltern auf so etwas hinzuweisen. Diese Erkenntnis ist hart, aber richtig. Ich weiß es und kann es dennoch nicht akzeptieren. Am liebsten würde ich mit Thaïs verschmelzen. Ich weiß genau, dass ich es mir nie verzeihen könnte, wenn ich bei ihrem letzten Atemzug nicht bei ihr wäre. Ich würde mich mein Leben lang schuldig fühlen, nicht ausreichend auf sie geachtet zu haben. Ich halte es für meine Aufgabe als Mutter, bei ihr zu sein.
Und doch … Da ist eine zarte, leise Stimme in meinem Herzen, die mir zuraunt: »Gönn ihr ein eigenes Leben.« Ich kann sie nicht ignorieren.
Ja, die Ärztin hat recht, absolut recht. Ich kann nicht alles kontrollieren und alles beherrschen. Meine kleine Tochter muss selbst wählen können. Ich ergebe mich … Nein, ich vernachlässige mein Kind nicht, und ich liebe es auch nicht weniger. Im Gegenteil – mein Entschluss ist einer meiner schönsten Liebesbeweise.
Denn ich habe mich entschlossen. Nicht schmerzlos. Ich werde loslassen. Zumindest ein wenig. Und ich werde versuchen, ein einigermaßen normales Leben zu führen. Nur so kommen wir weiter. Natürlich werde ich mich weiter um Thaïs kümmern und auf sie achten, aber nicht mehr exzessiv. Ich hoffe, dass ich es schaffe. Innerlich zittere ich schon jetzt.
Gute Vorsätze sollten sofort umgesetzt werden. Von der Ärztin ermutigt, entferne ich das Babyphone und verstaue es in einer Schublade. Ganz weit hinten. Am Abend gehe ich zu Thaïs, wünsche ihr ruhig eine gute Nacht und überprüfe mehrfach die Überwachungsgeräte. Ich bleibe noch ein wenig bei ihr und schiebe den Augenblick hinaus, in dem ich sie allein lassen muss. Schließlich verlasse ich das Zimmer, ohne die Tür zu schließen. Als ich im Bett liege, spitze ich die Ohren und lausche in die Stille. Aber ich höre nur mein ersticktes Weinen.
Alles ist ruhig. Zu ruhig? Nein, alles ist normal. Ich kann in Frieden schlafen. Wenigstens fast. Mehrmals muss ich mich mit aller Kraft zwingen, nicht aufzustehen. Ich habe das dringende Bedürfnis, mich zu versichern, dass wirklich alles in Ordnung ist. Aber ich widerstehe diesem Drang. Endlich dämmert der Tag herauf. Triumphierend recke ich mich. Ich habe es geschafft!
WIR LAUFEN WIE AUF EIERN . Wer heute Thaïs’ Zimmer betritt, muss aufpassen, wohin er die Füße setzt: Der Osterhase war da. Wir feiern Ostern immer ganz groß. Dieses Jahr vielleicht noch ein bisschen mehr.
Gaspard hätte seine Ostereier am liebsten draußen im nahegelegenen Park gesucht. Wir müssen ihn daran erinnern, dass Thaïs uns nicht begleiten kann, wenn wir das Haus verlassen. Daraufhin bittet er darum, dass wir uns alle im Wohnzimmer versammeln, wie zu Weihnachten. Wir erklärten ihm, dass das für Thaïs zu kompliziert ist, und schlagen vor, das Fest gleich ganz in ihrem Zimmer zu feiern. Aus Rücksicht auf seine kleine Schwester lässt er sich schließlich überzeugen. Außerdem gestehen wir ihm als Gegenleistung zu, selbst einige Eier verstecken zu dürfen – ein Privileg, das sonst nur sein Vater hat.
Gaspard lässt sich nicht lumpen: Eine Allee aus kleinen Schokoladenhasen führt zu Thaïs’ Bett, wo es zugeht wie in einem verrückten Hühnerhof. Thaïs brütet eine Unmenge Eier aus, eines bunter als das andere. Sie liegen an ihren Beinen entlang, folgen der Biegung ihrer Arme, verstecken sich unter ihren Händen und bilden eine Krone um ihren Kopf. Das Ganze
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