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Deine Schritte im Sand

Deine Schritte im Sand

Titel: Deine Schritte im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Dauphine Julliand
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Oft sitzen wir alle gemeinsam im Zimmer von Thaïs, weil wir es so schön finden, wenn die ganze Familie zusammen ist.
    Gaspard, Thaïs und Azylis lernen sich langsam besser kennen. Im Lauf der Zeit entwickeln die beiden Schwestern eine wunderbare Komplizenhaftigkeit. Gaspard zeigt ausgesprochen zärtliche Gefühle für Azylis. Er verbringt viel Zeit mit ihr, und wenn er aus dem Zimmer geht, versäumt er niemals, ihr zu erklären, dass sie keine Angst zu haben brauche – er komme sofort zurück.
    Azylis macht große Fortschritte im Kontakt mit ihrer Umwelt. Sie fängt sogar an, ein gewisses Interesse an ihren Fläschchen zu bekunden, nachdem sie uns beim Essen zugesehen hat. Loïc und ich sind glücklich, dieses Kapitel endlich beenden zu können, obwohl uns dann und wann die alten Gewohnheiten heimsuchen: Allzu oft verspüren wir noch das unangenehme Gefühl, etwas sehr Wichtiges vergessen zu haben, wenn wir Azylis mit unbedecktem Gesicht gegenüberstehen.
    DAS ERSTE FRÜHLINGSAHNEN LIEGT IN DER LUFT . Zögernde Sonnenstrahlen tasten sich durch dünne Wolken; sie allein genügen, um den Winter vergessen zu lassen. Die milde Luft macht mir Mut, das Haus zu verlassen. Mit Azylis im Kindersportwagen. Ohne jeden Schutz. Heute findet ihre erste richtige Ausfahrt statt.
    Erstaunt reißt sie die Augen auf, dreht sich bei jedem vorbeifahrenden Auto um und verfolgt die Bewegungsrichtungen der Passanten. Alles, was neu für sie ist, verschlingt sie mit Blicken. Beglückt wendet sie ihr Gesichtchen den wärmenden Sonnenstrahlen zu. Eine leichte Brise raubt ihr fast den Atem. Sie holt tief Luft. Ihre kleinen Nasenlöcher beben. Sie entdeckt den Wind.
    Stolz wie Oskar schiebe ich den Buggy. Mein Gesicht ist rot vor Vergnügen. Der Spaziergang in der frischen Luft tut mir gut. An Leib und Seele. Acht Monate musste ich warten, ehe ich diese Lust genießen durfte. Acht lange Monate. Fast die Dauer einer Schwangerschaft. Es ist, als finge für Azylis mit dem heutigen Tag ein neues Leben an. Genau wie für uns. Ein normales Leben. Das Leben, das wir uns immer gewünscht haben.
    Eilige Menschen hasten durch die Straßen. Sie ziehen den Kopf zwischen die Schultern und halten die Blicke gesenkt. Ihr Tempo überrascht mich. Ich gehorche solchen Zwängen nicht. Ich gehe langsam und genieße jeden Augenblick dieses Spaziergangs. Es sind magische, leichte, heitere Momente.
    Wie ein Eroberer gehe ich in der Mitte des Bürgersteigs. Einige Passanten schimpfen, weichen mir aus, rempeln mich an oder überholen maulend. Doch das alles berührt mich nicht. Ihr Protest zerschellt an meiner Glücksblase. Ich fahre meine kleine Tochter spazieren. Nur das zählt. Die Erde könnte aufhören, sich zu drehen – es wäre mir egal. Der Weg um den Häuserblock reicht mir zum Glück. Ich fühle mich wie alle Mütter, die einen Kinderwagen schieben. Bis auf eine Kleinigkeit: Ich bin mir mit jeder Faser der unglaublichen Möglichkeit bewusst, mein Kind einfach so, völlig natürlich und mit dem Näschen im Wind, spazieren fahren zu dürfen.

H AAREWASCHEN. NICHT GANZ EINFACH bei bettlägerigen Menschen. Seit Thaïs ihr Bett nicht mehr verlassen kann, haben wir uns in dieser Kunst geübt. Mehrmals in der Woche führen wir mithilfe der Krankenschwestern das reinliche Ritual durch. Und zwar zu Thaïs’ größtem Vergnügen. Das Haarewaschen, diese sanfte, duftende Behandlung, gehört zu ihren Lieblingsprozeduren.
    Wenn Thaïs hört, dass wir die Schüsseln vorbereiten, Krüge mit warmem Wasser holen, Handtücher, Bürsten, Fön und Haarspangen bereitlegen, beginnt sie zu lächeln. Sie zittert vor Ungeduld, wenn wir sie der Länge nach im Bett ausstrecken und eine Schwester ihren Kopf in die Hände nimmt. Sie seufzt entzückt, wenn ihr das warme Wasser über die Haare rinnt. Sie schnurrt vor Glück, wenn unsere Finger das Shampoo mit einer sanften Massage zum Schäumen bringen. Sie schwelgt geradezu, wenn die Bürste vorsichtig durch ihr Haar streicht und der Fön ihre hübschen Locken durcheinanderwirbelt. Und wenn wir ihr schließlich niedliche Zöpfchen geflochten haben, schläft sie entspannt und friedlich ein.
    Ich liebe Thaïs’ Fähigkeit, schöne Augenblicke mit jeder Faser zu genießen. Sie besitzt das angeborene Talent, selbst im tiefsten Unglück noch das kleinste Körnchen Glück aufzuspüren und für sich in Anspruch zu nehmen. Daher freut sie sich auch über jede Behandlung durch das medizinische Personal, weil sie sich nur der angenehmen

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