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Deine Schritte im Sand

Deine Schritte im Sand

Titel: Deine Schritte im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Dauphine Julliand
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Gefühle erinnert. So genießt sie zum Beispiel die Massagen zur Verhinderung von Dekubitus. Thérèse ist darin eine wahre Expertin; sie kann Stunden damit verbringen, den kleinen, gelähmten Körper einzuölen.
    Jeder von uns hat bestimmte Aufgaben bei den Anwendungen, deren Anzahl und Häufigkeit von Tag zu Tag steigt. Zwischen dem Verabreichen von Medikamenten, dem Windeln und Umziehen, der täglichen Reinigung, den Massagen und den übrigen Behandlungen bleibt kaum noch freie Zeit. Wir bemühen uns, ihr all dies so angenehm wie möglich zu machen. Eine Hand auf ihrer Wange während der Sauerstoffbehandlung, ein Streicheln über ihren Arm, wenn der Blutdruck gemessen wird, Unmengen liebkosender Worte beim Windeln und Umziehen. Thaïs erkennt die Liebe und Zärtlichkeit, die jede dieser Gesten beinhaltet. Und sie erkennt jedes noch so kleine Glück – auch dort, wo es eigentlich niemand vermutet.
    HÖREN. NUR DAS WAR THAÏS NOCH GEBLIEBEN . Ihr Gehör war der seidene Faden, der uns eine letzte Art einigermaßen normaler Kommunikation ermöglichte. Aber auch das ist jetzt vorbei. Als das Tablett mit den medizinischen Geräten und Medikamenten zu Boden kracht, zuckt Thaïs nicht zusammen. Sie blinzelt nicht einmal, während Gaspard und Thérèse aus anderen Zimmern angerannt kommen, um nachzusehen, was den Höllenlärm verursacht hat. Nun kann Thaïs also auch nicht mehr hören.
    Wieder einmal entdecke ich die Verschlechterung ihres Zustands eher zufällig. Bis zu diesem Zeitpunkt ließ nichts darauf schließen, dass sie nicht mehr hören kann. Wieder einmal bin ich fix und fertig, wenngleich vielleicht ein bisschen weniger als in den früheren Fällen. Längst habe ich ein tiefes Vertrauen zu Thaïs und ihrer unglaublichen Fähigkeit, sich anzupassen. Diese Fähigkeit kenne ich, seit sie in der Finsternis lebt, ohne dass der Verlust der Sehfähigkeit einen Schatten auf ihr Herz geworfen hätte. Die Stille überrascht sie nicht mehr als die Dunkelheit. Sie fürchtet sich nicht davor, von der Welt abgeschnitten zu sein. Sie ist es nicht, und sie wird es nie sein. Sie hat längst die nächste Stufe erreicht. Sie hat unsere üblichen Codes hinter sich gelassen und kommuniziert auf viel subtilere Weise.
    Unsere fünf Sinne sind ein Luxus. Ein Luxus, der uns viel zu selten bewusst wird. Um den Wert unserer Sinne wirklich schätzen zu können, müssen wir sie offenbar erst einmal verlieren. Oder ihre Grenzen erkennen. Der Besitz des Gehörs, des Seh- und Tastvermögens, des Geruchs- und Geschmackssinns ist einerseits ein unleugbarer Reichtum, kann aber auch arm machen. Bereichert werden wir dadurch, dass unsere Sinne einander ergänzen und uns gestatten, die uns umgebende Welt in allen Einzelheiten wahrzunehmen. Gleichzeitig verarmen wir jedoch, weil wir uns, wenn wir über alle Sinne verfügen, mit ihren Eindrücken begnügen. Jeder Austausch erfolgt reflexartig über die natürlichen Wege, ohne dass wir weitere Möglichkeiten ausprobieren. Wir können uns nicht vorstellen, es anders zu machen. Und doch hört man nicht nur mit den Ohren, sieht nicht nur mit den Augen, spricht nicht nur mit dem Mund, nimmt Gerüche nicht nur mit der Nase wahr und hat nicht nur die Haut, mit der man fühlt. Jedenfalls bin ich der festen Überzeugung, dass es so ist. Alles andere würde der menschlichen Natur mit ihrem tief verwurzelten Bedürfnis widersprechen zu teilen, sich mitzuteilen und zu verstehen.
    Als kleines Mädchen habe ich die schöne Geschichte von Helen Keller gelesen und war voll Bewunderung für die Bildung und Kommunikationsfähigkeit, die sich dieses taubblinde und später auch stumme Mädchen aneignen konnte. Taub, blind und stumm, wie meine Thaïs. Bei ihr ist es nur noch komplizierter, weil sie überdies auch noch fast vollständig gelähmt ist. Doch in ihrem Fall, ebenso wie bei Helen Keller, kann ihr eiserner Wille ihre Fähigkeiten vervielfältigen. Sie lässt sich nicht beirren. Jedes Mal, wenn ein weiterer ihrer Sinne den Dienst versagt, findet Thaïs einen für uns unverhofften Weg, um die Verbindung aufrechtzuerhalten. Sie benutzt winzigste Gesten, kaum hörbare Laute. Sie setzt die Dichte ihrer Haut, die Wärme ihres Körpers, das Gewicht ihrer Hände und das Schlagen ihrer Wimpern ein. Alles verwandelt sie in Lebenszeichen. Jeden Augenblick beweist sie uns, dass sie noch da ist und alles wahrnimmt, was sich um sie herum abspielt.
    Thaïs ist bereit, das, was sie lebt, mit uns zu teilen. Unter einer

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