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Deine Schritte im Sand

Deine Schritte im Sand

Titel: Deine Schritte im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Dauphine Julliand
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sieht wunderhübsch aus. Thaïs lächelt. Die Invasion macht ihr Spaß. Unmittelbar neben ihr hält eine ganze Armee von Schokoküken Wache bei den Apparaten. Ein ziemlich freches Exemplar steht zu dicht am Beatmungsgerät und beginnt, langsam zu schmelzen.
    Gaspard fühlt sich wie im siebten Himmel. Beglückt stellt er fest, dass er der Einzige ist, der die ganze Beute aufessen darf. Allerdings hat er die Rechnung ohne Azylis gemacht, die sich klammheimlich an einem kleinen, goldenen Hasen gütlich tut und sich nicht einmal die Mühe macht, ihn vorher auszuwickeln. Wird sie jetzt etwa zur Naschkatze? Das wäre einmal eine wundervolle Neuigkeit!
    Alle sind fröhlich. Jeder genießt auf seine Weise den gnadenreichen Moment. Am Abend dieses herrlichen Tages freue ich mich noch ein bisschen mehr über das heitere Klingen der österlichen Glocken. Denn schon jetzt fürchte ich die Totenglocke, die sehr bald in unserem Haus erklingen wird.

N EIN!« ES IST IHR ERSTES WORT . Natürlich nach »Papa«, aber immerhin deutlich vor »Mama«. Sie hätte auch »Heia« oder »Auto« oder etwas anderes sagen können. Wie alle Babys. Aber Azylis ist ganz gewiss nicht wie alle anderen Babys.
    Seit sie Kontakt zur Außenwelt hat, entwickelt sich ihre Persönlichkeit. Und was für eine Persönlichkeit! Azylis zeigt sehr ausgeprägte Charaktereigenschaften. Sie explodiert manchmal schnell, ist ausgesprochen zielstrebig und fast immer gut gelaunt. Sie weiß genau, was sie will, und zwar immer. Und sie weiß, was sie nicht will. Wenn sie etwas nicht will, ist es so gut wie unmöglich, sie umzustimmen. Sie lächelt freundlich, aber sie gibt nicht nach. Niemals. Und so wundert sich niemand wirklich über ihr unbeugsames »Nein!«. Es klingt nämlich durchaus nicht schüchtern, sondern sehr entschlossen. Die Entschiedenheit ihrer Entschlüsse entgeht niemandem. Die Krankenschwestern der häuslichen Pflege haben sie »Fräulein Nein-Nein« getauft, weil sie ihren Einspruch häufig verdoppelt. Um ganz sicherzugehen, dass man sie auch richtig versteht.
    Von ihrem ausgeprägten Willen und ihrer Lebensfreude angetrieben, macht Azylis große Fortschritte. Vielleicht sollte ich besser sagen: Fortsprünge. Wenn man sie beobachtet, kann man sich kaum vorstellen, dass sie seit ihrer Geburt schon so viel durchgemacht hat. Und doch musste sie in den ersten zehn Monaten ihres Lebens mehr ertragen als manch anderer Mensch in seinem ganzen Leben. Trotzdem scheint sie kein Trauma davongetragen zu haben. Es gibt nur eine einzige Erinnerung, die sie nicht mag: Masken. Sobald sie jemanden mit einer Maske sieht, bekommt sie Angst. Aber anscheinend ist das ihr einziges unangenehmes Andenken.
    Nicht einmal körperliche Spuren der vielen Monate im Krankenhaus sind zurückgeblieben. Ihre von den Medikamenten aufgedunsenen Gesichtszüge sind wieder zart und fein, ihre ehemals kurzen Haare sind gewachsen und kringeln sich an den Spitzen zu weichen, hellen Löckchen. Ihre Gesichtsfarbe ist frischer geworden und lässt darauf schließen, dass sie später den von ihrem Papa geerbten dunklen Teint entwickeln wird. Und die mühsam erworbenen zusätzlichen Kilos sorgen für eine süße Rundung ihrer Wangen.
    Azylis hat ihren Platz im Haus gefunden. Sie nimmt an allen Ereignissen des Alltags teil. Sie versäumt nicht einen Besuch, wartet auf die Lieferanten und lauert dem Physiotherapeuten und den Krankenschwestern auf. Sobald es klingelt, krabbelt sie in Höchstgeschwindigkeit auf allen vieren zur Eingangstür. Wenn sie weiß, wer der Besucher ist, krabbelt sie ihm zum Zimmer von Thaïs voraus, wo sie die Arme ausstreckt, damit man sie hochhebt und in der Nähe ihrer Schwester absetzt. Danach muckst sie sich nicht mehr. Sie passt auf, dass alles in der richtigen Reihenfolge abläuft.
    Azylis kennt die zur Pflege von Thaïs nötigen Handgriffe ganz genau. Sie beobachtet sie akribisch und ahmt sie geradezu perfekt nach. Sie hebt einen Zipfel der Bettdecke hoch und überprüft den Clip des Pulsoxymeters an dem großen Zeh. Mit professioneller Miene inspiziert sie die PEG -Sonde und den Beutel mit der Nährlösung. Und sie kontrolliert den Sitz des Tubus für die künstliche Beatmung.
    Natürlich ist mir klar, dass Azylis die Handgriffe nur imitiert, ohne um ihre Bedeutung zu wissen oder auch nur darüber nachzudenken. Sie macht es wie viele kleine Mädchen, die nach dem Vorbild der Mutter ihrer Puppe ein Fläschchen geben oder ihr die Windeln wechseln. Aber offenbar spürt

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