Deine Schritte im Sand
Bedingung: Wir müssen auf sie zugehen, um ihre Botschaften zu erhalten und ihre Nachrichten zu entschlüsseln. Sie bittet uns, ihr zuzuhören – nicht mit ihrer Stimme, sondern mit ihrem ganzen Wesen. Und genau hier liegt das Geheimnis: Als Alternative zum Luxus der fünf Sinne lehrt uns Thaïs den Reichtum des Einfühlungsvermögens. Sie lädt uns ein, unsere Fähigkeiten zu entwickeln, uns in die Gefühle anderer Menschen hineinzuversetzen.
Ich bin weder eine Anhängerin des Spiritismus noch der Telepathie. Aber ich glaube an den Dialog der Seelen und Herzen und an die Kommunikation durch die Liebe. Ganz fest. Thaïs sieht nicht mehr, aber sie schaut; sie hört nicht mehr, aber sie lauscht; sie spricht nicht mehr, aber sie kommuniziert. Und dafür braucht sie keine Sinne.
W IE RUHIG ES IST! Viel zu ruhig! Ich nähere mein Ohr dem Babyphone. Nicht das geringste Geräusch … Ich springe aus dem Bett, bewahre im letzten Moment die Nachttischlampe vor dem Absturz und haste in Thaïs’ Zimmer. Aufgelöst nähere ich mich ihrem Bett und halte die Luft an, um ihren Atem zu hören. Vorsichtig lege ich ihr die Hand auf die Brust. Ihr Herz schlägt friedlich, ihr Atem ist regelmäßig. Sie schläft einfach nur. Uff!
Ich bleibe noch einige Zeit an ihrem Bett stehen, ehe ich wieder ins Schlafzimmer zurückkehre. Loïc brummt. Es stört ihn, dass er schon wieder aufgeweckt worden ist. Ich blicke auf die Leuchtziffern des Weckers. Halb fünf. Schon drei Mal bin ich in dieser Nacht aufgestanden und habe nachgesehen, ob es Thaïs gut geht. Und dabei wird es leider nicht bleiben.
So geht es jetzt jede Nacht. Obwohl ich mich selbst zur Vernunft rufe, gelingt es mir nicht, meine Ängste zu ignorieren. Seit wir Thaïs zu Hause pflegen und wissen, dass ihre Tage gezählt sind, fürchte ich eines ganz besonders: dass sie ganz allein und ohne einen Laut stirbt; dass sie mich braucht, ich es aber nicht spüre; dass sie um Hilfe ruft, ich es aber nicht höre. Inzwischen tue ich kaum noch etwas anderes, als mich um sie zu kümmern. Ich verlasse ihr Zimmer kaum noch und lasse sie so selten wie möglich allein, damit ich im richtigen Moment bei ihr bin. Natürlich würden mich die Überwachungsinstrumente bei Tag und Nacht sofort alarmieren, falls sich ihr Herzschlag oder ihre Atemfrequenz außergewöhnlich verändern. Aber ich vertraue ihnen nicht. Sie könnten zum Beispiel just in dem Augenblick ausfallen, in dem Thaïs stirbt.
Aus diesem Grund habe ich ein Babyphone installiert, um auch dann mit ihr verbunden zu sein, wenn ich mich nicht in ihrem Zimmer aufhalte. Der Sender befindet sich nur wenige Zentimeter von ihrem Mund entfernt, den Empfänger habe ich immer bei mir. Er begleitet mich in die Küche, ins Bad und ins Wohnzimmer. Nur wenn Loïc oder Thérèse bei Thaïs sind, achte ich nicht auf das Gerät. Vor dem Zubettgehen drehe ich die Lautstärke voll auf, um Thaïs atmen zu hören. Ihr Atem beruhigt mich und wiegt mich in den Schlaf. Doch ich schlafe nie sehr tief; ein Ohr ist immer auf Empfang eingestellt, und all meine Sinne sind in Alarmbereitschaft. Das leiseste Geräusch und das kleinste Schweigen wecken mich auf. Mit jedem Tag, der so vergeht, wächst meine Anspannung.
ZUM HÄUSLICHEN PFLEGETEAM GEHÖRT eine auf Palliativmedizin spezialisierte Kinderärztin, die Thaïs regelmäßig besucht, ihren Zustand begutachtet und prüft, ob die Medikation ausreicht. An diesem Morgen bemerkt sie meine dunkel umrandeten Augen, meine Blässe und meine Nervosität und weiß sofort, wie unruhig ich bin. Ich berichte ihr von den Gründen für meine unterbrochenen Nächte und gestehe ihr, dass ich Thaïs immerzu überwache. Ich habe großes Vertrauen zu dieser Ärztin, sie verfügt über ausgezeichnete menschliche und berufliche Qualitäten. Wir unterhalten uns häufig. Manchmal drehen sich unsere Gespräche um medizinische Themen, oft aber auch um persönliche Dinge. Heute erkennt sie mein Problem auf den ersten Blick.
Am Bett von Thaïs berichtet sie mir von ihren Erfahrungen mit krebskranken Kindern. Ihre Stimme ist sanft und freundlich. Sie strahlt Respekt und Zartgefühl aus. Sie erzählt von einem kleinen, todkranken Mädchen, das von seiner Mutter Tag und Nacht überwacht wurde und ausgerechnet in dem kurzen Augenblick zu sterben beschloss, in dem seine Mutter etwas zu essen holte. Noch viele ähnliche Fälle schildert sie mir. Ich senke den Blick, denn ich beginne, die Botschaft ihrer Geschichten zu verstehen. Aber ich
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