Deine Schritte im Sand
Schmerzen. Es handelt sich um bohrende Qualen, die auf die Schädigung des Nervensystems zurückzuführen sind. Patienten, die daran leiden, sprechen auf klassische Schmerzmittel nicht an. Häufig wird das Gefühl mit dem von Verbrennungen, Messerstichen oder Stromschlägen verglichen. Für uns Eltern ist es entsetzlich, das zu hören. Wir flehen den Arzt an, etwas dagegen zu tun. Er verschreibt uns einige Spezialmedikamente gegen die Schmerzen. Es ist der Beginn einer langen, sehr langen Serie von Tabletten, Pillen, Tropfen und Sirups, die das Leben unserer Tochter erleichtern sollen.
Die starke Dosierung führt zu einigen Schwierigkeiten. Häufig müssen wir die Rezepte erneuern, weil die Dosis wegen der Heftigkeit von Thaïs’ Anfällen ständig erhöht werden muss. Nach und nach kennen uns die Apotheker. Eines Tages jedoch suche ich bei einem dringenden Notfall eine neue Apotheke in unserem Viertel auf. Ich lege das Rezept für Thaïs vor und betrachte unterdessen die Schönheitsprodukte, die auf dem Tresen aufgebaut sind. Die Apothekerin liest das Rezept, schaut mich an und liest erneut. Schließlich fragt sie mich: »Entschuldigen Sie, aber für wen sind diese Medikamente?«
»Für meine Tochter.«
»Wie alt ist Ihre Tochter?«
»Zwei Jahre.«
»Zwei Jahre? Dann haben wir ein Problem. Wir dürfen diese Medikamente nicht für so kleine Kinder abgeben.«
Auf diesen Widerstand war ich nicht vorbereitet. Ich versuche, es ihr zu erklären: »Ich kann mir denken, dass es Ihnen merkwürdig vorkommt. Aber meine Tochter hat eine sehr schwere Krankheit. Sie leidet unter …« Und da ist es plötzlich – das Loch. Der Name der vermaledeiten Krankheit will mir beim besten Willen nicht einfallen. Ich denke nach, versuche mich zu erinnern und die Symptome zu beschreiben. Ohne Erfolg. Die Apothekerin mustert mich und wird immer skeptischer. Sie wendet sich an eine Kollegin, die mich mit einem ebenso argwöhnischen Blick bedenkt. Immer noch suche ich nach dem Namen. Ich bin wütend, dass mein Gedächtnis mich ausgerechnet in diesem Moment im Stich lässt. Ohne den Blick von mir zu nehmen, wenden die beiden Damen sich an den Inhaber der Apotheke. Während er das Rezept studiert, dringen die gesuchten Worte plötzlich über meine Lippen.
»Metachromatische Leukodystrophie!« Ich habe es durch die ganze Apotheke gerufen. Etwas weniger laut wiederhole ich: »Meine Tochter leidet an metachromatischer Leukodystrophie, einer genetisch bedingten degenerativen Krankheit …«
Der Apotheker blickt mich mitleidig an und nickt. Er weiß Bescheid. »Schon gut. Geben Sie der Dame Ihre Medikamente.«
Eine der Apothekerinnen bringt mir die Ware und sagt leise: »Entschuldigen Sie bitte, aber wir haben noch nie erlebt, dass ein so kleines Kind derart starke Medikamente verschrieben bekommt. Selbstverständlich werden wir Ihnen in Zukunft keine Fragen mehr stellen.«
Ich presse die Tüte an mich wie eine wertvolle Beute.
Die Apothekerin fügt hinzu: »Ich wünsche Ihnen und Ihrem Töchterchen viel Kraft und alles Gute.«
W IE TRAUERE ICH DIESEM FÜSSCHEN NACH , das sich nach außen drehte. Es war eine von Thaïs’ Besonderheiten. Ich hatte es liebgewonnen. Jetzt dreht es sich nicht mehr, denn Thaïs hat aufgehört zu laufen. Sie läuft gar nicht mehr. Weder an der Hand noch an den Wänden entlang, nicht einmal mehr mit einer Gehhilfe. Die Anstrengung wurde für ihre Beine zu groß, denn das Gehirn sandte ihnen nicht mehr die richtigen Impulse. Lange haben ihre Beinchen sich gewehrt, aber schließlich gaben sie auf. Nie wieder werden Thaïs’ kleine Fußspuren sich im feuchten Sand abzeichnen.
Selbst mit dem stärksten Willen der Welt kann man nicht gegen einen so heimtückischen Feind wie diese Krankheit ankämpfen. Thaïs hat aufgegeben. Es heißt, dass man vielleicht die eine oder andere Schlacht verlieren darf, aber nie den Krieg. Ich fürchte allerdings, dass wir weder eine Schlacht noch den Krieg gegen die metachromatische Leukodystrophie gewinnen können. Sie wird das letzte Wort haben.
Es sei denn, die Schlacht verläuft anders als vermutet. Könnte es vielleicht sein, dass sich der Kampf auf einer ganz anderen Ebene abspielt? Sicher, Thaïs kann nicht mehr laufen. Aber hat sie deswegen schon verloren? Besiegt wirkt sie jedenfalls nicht. Im Gegenteil. Sie sammelt ihre Kräfte, um sich auf andere Schauplätze zu konzentrieren. Im Hinblick auf Willenskraft, Geduld und Hellsichtigkeit gewinnt sie. Sie benutzt unsere Beine,
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