Deine Schritte im Sand
um sich fortzubewegen. Sie führt uns, indem sie mit dem Finger auf den Ort zeigt, zu dem sie möchte, und sagt: »Da! Da!« für den Fall, dass wir nicht verstanden haben. Thaïs weiß inzwischen sehr genau, was sie will. Und was sie will, ist nicht unbedingt immer das, was wir wollen.
Wir wollen, dass sie aufwächst wie alle anderen, dass sie sich entwickelt wie alle anderen, dass sie lebt wie alle anderen. Wir wollen, dass sie so ist wie alle anderen, weil wir Angst haben. Angst vor dem Unbekannten. Angst davor, anders zu sein. Angst vor der Zukunft. Sie aber hat keine Angst. Kleine Kinder sind fast immer so. Es ist die Abwesenheit von Angst, die es ihnen gestattet, ohne zu zögern von einem Tisch in die ausgebreiteten Arme ihres Vaters zu springen. Sie haben keine Furcht, aber dafür großes Vertrauen. Und genau darin liegen Thaïs’ Stärke und die Quelle ihrer Heiterkeit. Sie fürchtet sich nicht vor morgen, weil sie nicht daran denkt und uns vertraut. Sie weiß, dass wir da sind, was auch immer geschieht. Sie will ihren eigenen Weg weitergehen – auch wenn der Weg steil ist und sie nicht mehr laufen kann. Dieser Weg ist ihr ganzes Leben. Sie nimmt ihn, wie er kommt und ohne ihn mit dem Weg eines anderen zu vergleichen. Natürlich hat sie manchmal Schwierigkeiten, doch sie genießt auch die guten Augenblicke. Es sind die kleinen, einfachen Dinge, die wir übersehen, weil Schmerz und Angst uns blind machen.
Ja, dieser kleine Fuß, den ich so sehr liebe, wird sich nie wieder nach außen drehen. Aber das hindert Thaïs nicht daran, glücklich zu sein. Und uns hindert es nicht daran, sie zu lieben. Im Grunde sehnt sie sich nach nichts anderem.
EIN DUMPFES GERÄUSCH . Thaïs ist umgekippt, wieder einmal. Es passiert ihr immer öfter, denn sie kann kaum noch sitzen. Sie liegt mitten in ihrem Zimmer zwischen den Bauklötzen. Im Fallen hat sie ihren Turm zerstört. Sie weint. Ich eile ihr zu Hilfe. Ihr Bruder ist bereits da und versucht, sie wieder aufzurichten. Ich erkenne seine Verzweiflung sehr genau, kann aber nicht umhin, ihn zu rügen. Wie jedes Mal, wenn Thaïs sich wehtut, während die beiden zusammen spielen. Wieder einmal erkläre ich ihm, er müsse besser auf seine kleine Schwester aufpassen. Und wieder einmal sage ich ihm, dass sie krank und viel empfindlicher sei als er. Ich nehme Thaïs in die Arme, um sie zu trösten, und lasse Gaspard verlegen mitten im Zimmer stehen.
Sein Schluchzen ist bis ins Wohnzimmer zu hören. Ich gehe in sein Zimmer. Gaspard liegt auf seinem Bett, hat den Kopf unter dem Kissen vergraben und vergießt bittere Tränen. Noch nie habe ich ihn so verzweifelt weinen sehen. Es zerreißt mir das Herz.
»Mama, es ist zu schwierig für mich, eine kleine Schwester wie Thaïs zu haben. Nicht, weil sie Thaïs ist, sondern wegen ihrer Krankheit. Meine Freunde haben Glück. Ihre Schwestern sind nicht krank. Ich muss immer aufpassen, wenn ich mit ihr spiele. Aber das ist zu schwer für mich. Ich bin nicht ihr Papa oder ihre Mama. Ich bin noch klein. Nur ein Kind. Kinder können sich nicht so um andere Kinder kümmern. Das müssen die Erwachsenen tun. Ich mag nicht mehr mit ihr spielen. Ich habe viel zu viel Angst, dass sie sich wehtut und dass ich dann ausgeschimpft werde. Dabei bin ich gar nicht schuld, wenn sie fällt. Das macht die Leukodystrophie.«
Sprachlos setze ich mich neben ihn. Er hat recht. Ich habe noch nie darüber nachgedacht. Jedenfalls noch nie so. Ich muss zugeben, dass ich meine Unvoreingenommenheit verloren habe, denn ich sorge mich hauptsächlich um das Wohlergehen von Thaïs und beurteile jede Situation unter dem Aspekt ihrer Krankheit. Ich habe schreckliche Angst um sie. Es stimmt, dass ich meine Ängste auf Gaspard übertrage und ihm eine Verantwortung zumute, für die er noch viel zu klein ist. Mein Sohn ist nicht einmal fünf Jahre alt.
Mein Verhalten hindert ihn daran, sich Thaïs gegenüber natürlich zu geben. Er fürchtet sich davor, nicht zu genügen, seine Schwester nicht davor schützen zu können, sich wehzutun, seine Eltern zu enttäuschen und schließlich ausgeschimpft zu werden. Natürlich soll ein Junge nicht die Verantwortung für seine kleine Schwester tragen müssen, ob sie nun krank ist oder nicht. Entschuldige, kleiner Gaspard. Bitte, sei wieder einfach nur ein kleiner Junge.
Schließlich ist er es, der mich tröstet. Und der die Lösung findet. »Weißt du, was wir machen, Mama? Wenn ich mit Thaïs spiele, und sie hat ein Problem, rufe ich
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