Deine Seele in mir /
Monaten bei den Kents und nach diesem Ausflug zu Evelyn und Peter habe ich langsam, aber sicher das Gefühl, aus allen Nähten zu platzen.
Trotzdem greifen wir höflich zu.
»Wilson und ich sind erst seit zwei Jahren ein Paar. Geheiratet haben wir im vergangenen Sommer. Ihr seid euch bisher nur zwei- oder dreimal begegnet«, erklärt Diane.
Sie ist klein und untersetzt, ihre dunkelblonden Haare sind lockig. So ähnlich, wie sich die Charles-Schwestern sind, so absolut verschieden sehen Kristin und Diane aus. Dennoch verbindet eine gemeinsame Eigenschaft die beiden unverkennbar: die überschwengliche Herzlichkeit.
Diane beobachtet Amy, die brav ihre Milch austrinkt und ein, zwei Kekse dazu mümmelt.
»Ich habe auch eine Tochter«, erzählt sie. »Clara. Sie ist dreizehn Jahre alt.«
Amy nickt. »Ja, ich weiß. Ein paar vage Bilder habe ich von ihr, und Kristin hat mir viel erzählt.«
Diane schaut verdutzt. »Du nennst deine Eltern bei ihren Vornamen?«
Ups!
Amys Gesichtsausdruck entgleist ihr etwas; für einen Augenblick scheint sie nicht zu wissen, was sie ihrer Tante entgegnen soll. Die jedoch schüttelt nur den Kopf und winkt ab. »Kristin war immer bestrebt, mit dir alles richtig zu machen. Sie wollte die hundertprozentige Mutter sein, ehrgeizig bis zur totalen Erschöpfung. Dabei hat sie wohl zu viele dieser modernen Elternzeitschriften gelesen, in denen immer wieder propagiert wird, wir Eltern sollten unseren Kindern die besten Freunde sein. In meinen Augen ist das Quatsch. Clara ist der einzige Mensch auf der Welt, der mich rechtmäßig Mom nennen darf. Wenn man es so betrachtet, ist es doch eigentlich eine Ehre, oder nicht?«
Sie lacht herzlich und gießt unsere Gläser noch einmal voll. Amy wirft mir einen amüsierten Blick zu. Diane fährt unbeirrt fort.
»Clara nennt nur Wilson bei seinem Vornamen. Mike – ihren Vater – und mich nennt sie Mom und Dad. Mike und ich haben mittlerweile wieder ein recht gutes Verhältnis zueinander; wir haben uns vor fünf Jahren getrennt. Clara lebt inzwischen bei ihrem Vater und seiner neuen Freundin, was anfangs ziemlich schwer für mich war. Mittlerweile kann ich sie aber verstehen. Mike lebt schließlich in der Stadt, und die bietet einem jungen Mädchen natürlich viel mehr Möglichkeiten und Abwechslung als unser Landleben. Es ist schon okay so. Wir sehen uns zwar nur einmal im Monat, aber dafür bleibt sie dann das ganze Wochenende. Hier, das ist sie.« Diane reicht uns ein gerahmtes Bild ihrer Tochter. Ich werfe einen kurzen Blick auf das blonde Mädchen und nicke anerkennend, Amy hingegen betrachtet es mit aufrichtigem Interesse.
»Wir haben auch ein Foto von ihr. Auf unserem Kamin«, sagt sie.
»Ja, ich weiß, welches du meinst. Da war Clara acht oder neun Jahre alt und noch brav. Inzwischen …«
Wir hören entspannt zu, als Diane weiter von ihrer Tochter erzählt. Es ist schön, für ein paar Minuten mal nur Zuhörer zu sein.
Die Tage bei den Charles' waren zwar unvergesslich schön, aber auch sehr anstrengend verlaufen. Amys unglaubliche Geschichte immer wieder glaubhaft werden zu lassen war nervenaufreibend und stets ein Balanceakt gewesen. Amy beantwortete alle Fragen, immer wieder dieselben, mit einer Engelsgeduld, für die ich sie mehr als nur einmal bewunderte.
Diane, die von all dem natürlich nichts weiß und bis jetzt davon ausgeht, ihre Nichte habe mich lediglich zu einer Tagung begleitet, kann Amys Erschöpfung daher nicht nachempfinden. Ich schon. Amys Gesicht ist blass, ihr Lächeln wirkt matt und kraftlos. Sie mag zufrieden sein, doch momentan liegt bleierne Müdigkeit über ihrem Glück.
Ahnungslos lenkt die gutmütige Frau das Gespräch von Clara zurück auf Amy und kommt dann sehr schnell auf den Autismus, aus dem sich ihre Nichte so unverhofft befreit hat. In der nächsten Viertelstunde versucht Diane Klarheit zu erlangen. Auf Amys Kosten. Denn nach der Offenheit, die in den vergangenen Tagen geherrscht hat, ist es nun sehr schwierig für Amy, wieder Julie zu sein. Ich spüre ihren Widerwillen. Als die Fragen ihrer Tante immer spezifischer werden, sieht mich Amy hilfesuchend an. Ich weiß, was sie sich erhofft: eine Ablenkung für Diane, die ihr selbst ein kurzes Durchatmen ermöglicht.
»Sagen Sie, Diane, haben wir Sie eigentlich vorhin bei der Gartenarbeit gestört?«, werfe ich daher ein.
»Oh, kein Problem! Ich bin eigentlich ständig im Garten. Sogar sonntags, wie ihr seht. Bei der Größe unseres Grundstückes muss ich
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