Deine Seele in mir /
Noch ehe ich mich versehe, rennt sie bereits die holprige Steintreppe hinab, klettert über die Felsbrocken und läuft dann über den feuchten Sand dem Wasser entgegen.
Hatte ich bis vor ein paar Sekunden noch geplant, gemächlich mit ihr zur Brandung zu spazieren, so bleibe ich jetzt an mein Auto gelehnt zurück und sehe ihr zu, wie sie im Laufen die Schuhe abwirft. Ein weiterer Augenblick, an den ich mich erinnern werde, solange ich lebe – das wird mir schlagartig klar. Amys Locken hüpfen, und ihre Jacke weht wie eine Fahne waagerecht im Wind.
Ich würde mir gerne etwas anderes einreden, doch als ich sie so sehe, weiß ich, dass es keine Selbstlosigkeit war, Amy zurück ins Leben zu holen. Ich wusste schon damals, dass meine Welt eine bessere sein würde, wenn sie erst wieder ein Teil von ihr wäre. Für einen Augenblick denke ich an Mary, die nicht mal für eine Sekunde ein annäherndes Glücksgefühl in mir hatte erwecken können. Ich verdränge das Schuldgefühl.
Amy steht mittlerweile bis zu den Knöcheln im Wasser. Es muss verdammt kalt sein, denn sie quietscht immer wieder laut auf, wenn die Wellen sie erreichen. Dann beugt sie sich plötzlich herab und befeuchtet ihre Fingerspitzen. Ich traue meinen Augen kaum – sie kostet tatsächlich das Salzwasser.
»Bah!«, ruft sie laut und schüttelt sich.
Amy! Nichts kann sie blind hinnehmen, alles muss getestet werden. Im Stehen pinkeln, Salzwasser kosten. Manche Dinge ändern sich wohl nie. Ich hole eine Decke aus meinem Auto und mache mich auf den Weg zu ihr. Der Strand ist schmutzig. Algen, Treibholz und Müll – achtlos ins Wasser geschmissen – liegen überall. Im Sommer herrscht hier Ordnung, doch außerhalb der Saison sehen die Strände alle ähnlich verwahrlost aus.
Amy kümmert das nicht.
Ihre erste Begegnung mit dem Ozean, der an diesem Tag eher aschgrau als dunkelblau wirkt, lässt sie sich durch nichts verderben. Sie genießt – mit all ihren Sinnen.
»Hör doch, Matty, wie das zischt und donnert. Was für eine Kraft! Und dieser Sand ... der fühlt sich unter meinen Füßen so fein an. Ich kann nicht fassen, dass du deine Schuhe noch trägst. Zieh sie aus, Matt! Merkst du, wie salzig die Luft riecht? Bisher wusste ich nicht mal, dass man Salz überhaupt riechen
kann.
Verrückt, oder? Und das Wasser schmeckt, als könne man Spaghetti darin kochen.« Aus ihr spricht die Begeisterung eines Kindes.
Sie wirft den Kopf zurück und lacht. Dann wendet sie sich wieder dem Ozean zu, dessen Sog nicht nur einmal droht, sie umzuschmeißen. Ihr einfach die Füße wegzuziehen. Amy jedoch steht mit ausgebreiteten Armen in der Brandung. Welle um Welle bricht sich an ihr und schlägt mit ungeminderter Wucht ans Ufer. Ihre Hose ist bereits klitschnass.
»Sieh nur, man kann den Übergang zwischen Wasser und Himmel gar nicht erkennen. Es sieht wirklich so aus, als wäre der Ozean unendlich weit. Das ist so herrlich, Matt!«
Sie dreht sich im Wasser, atmet noch einige Male tief durch, und dann, endlich, stapft sie mir entgegen. »Du sagst ja gar nichts«, stellt sie fest.
»Ich genieße. Schweigend!«, erwidere ich mit einem Zwinkern.
»Was? Den Ozean oder mich?«
»Beides. Mit unterschiedlicher Wertigkeit.«
»Und? Wer gewinnt?«
»Ist
das
eine Frage – du natürlich«, gestehe ich.
»Gegen dieses Wunder?« Amy wendet sich noch einmal dem Wasser zu.
»Gegen
jedes
Wunder.
Du
bist mein größtes Wunder!«
Sie lässt mir einige Herzschläge lang Zeit, ihre Sprachlosigkeit auszukosten. »Wow«, sagt sie dann.
»Komm schon her, du bist ja klitschnass. Außerdem zitterst du vor Kälte. Hey, vergiss deine Schuhe nicht!«
Ich hülle Amy in die Decke ein und hebe sie auf meine Arme. Diese Bewegung ist mittlerweile eingespielt; wie oft habe ich sie schon getragen? Noch einmal tunke ich ihre Füße in das Wasser, um den Sand abzuspülen, dann balanciere ich mit ihr über die Felsbrocken und trage sie die Stufen hinauf, zurück zum Auto.
Amy schlingt ihre Arme um meinen Hals. »Danke«, flüstert sie mir ins Ohr. »Ich danke dir für alles, Matty! Das war unglaublich schön.« Sie küsst meinen Hals und kuschelt sich an mich.
Mit einer Hand öffne ich die Beifahrertür und lasse sie vorsichtig auf ihren Sitz herab. Aus ihrer Tasche im Kofferraum krame ich eine frische Jeans hervor. Amys Blick ist noch immer auf den Ozean gerichtet. Ich knie mich vor sie nieder und halte die Decke vor sie, während Amy aus ihrer durchnässten Hose schlüpft und sich die
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