Deine Spuren im Sand
doch sehr wichtig war. Es schien, als flatterte meine Perücke einen Augenblick über meinem Kopf, denn zwei, drei Haare verfingen sich zwischen meinen Lippen, dann hatte ich zugegriffen. Leider bekam ich jedoch nur fünf oder sechs lange Haare zu fassen, die sich prompt aus der Perücke lösten. Der Rest machte sich in kühnen Sprüngen Richtung Rantum davon. Die Perücke kreiselte über den Sand, wirbelte ihn auf, während sie weiterflog, näherte sich erschreckend schnell der Wasserkante, stippte in eine auslaufende Welle, was sie zum Glück so schwer machte, dass der Wind nicht mehr mit ihr umgehen konnte, wie er wollte. Sie ließ sich schließlich in der Nähe eines etwa zehnjährigen Jungen nieder, der damit beschäftigt war, die Wellen in einen Kanal zu führen, den er eigens dafür ausschachtete.
Verwundert nahm er meine Perücke auf und schien sich zu fragen, ob sie zur Waschbürste taugen könnte, für den Fall, dass er sich entschloss, am Ende des Kanals eine Waschanlage für seine zahlreichen Matchbox-Autos zu errichten.
Ich hätte ihm meine blonden Locken am liebsten aus der Hand gerissen, wollte mir aber vorsichtshalber seine Sympathie nicht verscherzen und bat ihn freundlich, allerdings mit Nachdruck: »Gib mir bitte sofort meine Haare zurück!«
Er starrte mich an, betrachtete mit großen Augen, was die Natur meinem Kopf gegeben und was ein tollkühner Friseur daraus gemacht hatte. Dann schien er einzusehen, dass er mir meine Perücke nicht vorenthalten durfte.
»Schämst du dich, mit solchen Haaren rumzulaufen?«, fragte er und fügte dann aufmunternd hinzu: »Ginge mir auch so!«
Ich nickte verschwörerisch, fühlte mich verstanden, obwohl der Junge nicht gerade ins Schwarze getroffen hatte, und stülpte mir die Perücke wieder auf. Sand rieselte auf meine linke Schulter, von der rechten wischte ich ein paar Wassertropfen. Dann schüttelte ich meine blonden Locken, während ich gleichzeitig den Scheitel eisern auf die Kopfhaut drückte, und sah den Jungen bittend an. »Schau mich an! Ist so alles wieder okay?«
Er betrachtete mich eingehend, dann nickte er. »Geht so.«
Besonders aufmunternd fand ich seine Antwort nicht. Aber ich würde meine Frisurprobleme nicht lösen, indem ich sie mit einem Zehnjährigen diskutierte. Also schwieg ich und sah mich vorsichtshalber um. Viel wichtiger war, ob jemand diesen Zwischenfall beobachtet hatte und mich jetzt mit offenem Mund anstarrte oder sogar Anstalten machte, mich anzusprechen.
Aber tatsächlich sah es so aus, als hätte niemand auf mich geachtet. In meiner Nähe wurden Badelaken ausgeschlagen, Bikinis zum Trocknen aufgehängt, Butterbrote herausgeholt und Kleinkinder daran gehindert, den Kuchen, den sie mit ihren Förmchen gebacken hatten, aufzuessen. Niemand hatte einen Blick für mich. Wer nicht beschäftigt war, sah aufs Meer hinaus, in den Himmel oder den Möwen nach.
Trotzdem zog ich vorsichtshalber den Pony etwas tiefer ins Gesicht und blickte unverwandt auf meine Füße, als ich den Strand verließ. Auf der Kurpromenade konnte ich aufatmen. Niemand hatte sich mir in den Weg gestellt, keiner sah mir nach, kein einziger zückte sein Handy oder packte eilig seine Sachen zusammen. Anscheinend war ich noch einmal davongekommen. Doch so etwas durfte nie wieder passieren! Ich musste mir unbedingt ein Tuch kaufen, das ich über meine Perücke binden konnte. Sämtliche Damen im Rentenalter trugen so etwas, um ihre Dauerwellen vor dem Wind und ihre Haartönungen vor der Sonne zu schützen, also würde es nicht weiter auffallen, wenn ich auf eben solche Weise meine Perücke auf dem Kopf festzurrte.
Auf der Friedrichstraße hob ich den Kopf und sah dem einen oder anderen Passanten sogar ins Gesicht. Keine Reaktion! Mit jedem Schritt wuchs die Sicherheit in mir. Anscheinend war meine Verkleidung gar nicht so schlecht. Plötzlich spürte ich, wie ich mich aufrichtete und meine Schritte größer wurden. Ich hätte mich schon eher unter einer blonden Perücke verstecken sollen! Die Welt war viel leichter zu beschummeln, als ich gedacht hatte.
Meine Laune verbesserte sich von Schritt zu Schritt. Dass in meiner Tasche mal wieder ein Hahn zu krähen begann, störte mich nur am Rande. Babette würde sich noch ein Weilchen gedulden müssen.
Am Ende der Friedrichstraße stieß ich auf eine Parfümerie, die mir unbekannt war. Möglich, dass ein Haus dieser Kette noch nicht auf Sylt etabliert war, als ich anfing, mich mit dekorativer Kosmetik zu
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