Deine Stimme in meinem Kopf - Roman
Francisco. Er spielte in einer Rockband. Ich war eine blutjunge Musikjournalistin. Wenn er auf Tour war, schickte er mir Postkarten, manchmal, nicht immer. Er schickte mir auch ein paar Bücher.
Erinnerungen eines Revolutionärs
von Victor Serge traf ein, beschriftet mit durchdachter Gleichgültigkeit.
Als ich ihn erhörte, seufzte er und sagte: »Wir haben etwas gemeinsam, Em. Wir werden immer die am wenigsten attraktiven Menschen im Raum sein.« Eine Art postkoitale Ohrfeige. Nachdem wir miteinander im Bett gewesen waren, erzählte er mir, dass ich nicht hübsch war und von Glück reden könnte, dass er mich wollte. Damals fing ich mit dem Ritzen an.
»Ich hab an mir herumgeritzt, als ich wusste, dass ich ihn treffen würde, damit ich einen Grund hatte, mich nicht auszuziehen. Auf diese Weise würde ich mich nicht in ihn verlieben. War natürlich längst zu spät.«
Dr. R wirkt sehr, sehr traurig. »Und, hat’s funktioniert?«
»Nein, ich war verrückt nach ihm. Ich bin trotzdem mit ihm nach Hause gegangen. Und er hat die Schnitte nicht gesehen. Sind ihm nie aufgefallen. Oder falls doch, hat er nichts gesagt. Er hat mich trotzdem gefickt.« Ich breche in Tränen aus, total bestürzt, dass der Mann, von dem ich glaubte, er sei wie das Dorf Brigadoon vor zehn Jahren verschwunden, noch immer eine solche Wirkung auf mich hat. Ich sage vor Dr. R nicht gern »ficken«. Ich hasse es. Es fühlt sich an, als würde ich sein Zimmer beschmutzen.
Obwohl, mal ehrlich, was genau beschmutze ich dadurch? Ich weiß nicht, welche Geschichten vor mir hier waren und welche der Patient nach mir mitbringen wird. Auf einmal würde ich mir am liebsten Mund und Nase zuhalten, aus Angst vor psychologischen Krankheitskeimen in der Luft, und ich will von hier weg und mein liebeskrankes Teenager-Ich in London lassen, vor einem Mann kniend, der es nicht ausstehen kann.
12. Kapitel
10. Mai 2008
Ich machte eine besonders harte Zeit in meinem Leben durch, als ich zu Dr. R kam. Durch einen Zufall wurde ich an meinem Geburtstag vor neun Jahren ausgerechnet an ihn verwiesen.
Als ich wegen eines Termins anrief, sagte er, ihm hätte gerade jemand abgesagt. Er schlug den 19. Januar vor. Ich sagte, der Tag sei nicht gut, es sei mein 49. Geburtstag, und wer ginge schon an seinem Geburtstag zu einem Doktor, doch er meinte: »Warum nicht? Dieser Tag ist so gut wie jeder andere.« Ganz schön weise von ihm!
Rückblickend kann ich sagen, dass meine erste Sitzung bei Dr. R mein bestes Geburtstagsgeschenk aller Zeiten war.
Ich wusste nicht, dass Dr. R krank war. Unsere letzte Sitzung ist schon einige Monate her. Da war er noch wie immer – optimistisch, einfühlsam, konzentriert und verständnisvoll wie eh und je. Er verlor nie den Boden unter den Füßen. Ich weiß erst jetzt, wie tapfer er an jenem Tag war. Er wird mein Held bleiben – für immer und ewig.
M (NEW YORK, NY)
»Ich weiß, dass es Ihnen allmählich besser geht, weil Sie den 11. September so gut verkraftet haben. Anderen Patienten ist das nicht gelungen.«
Ich zucke die Schultern. »Psychisch kranke Menschen mögen keine Apokalypse.«
Er schaut mir in die Augen. »Bei vielen meiner Patienten hat das etwas ausgelöst. Bei Ihnen nicht.«
An jenem 11. September sind im Laufe des Tages selbst meine toughsten Freundinnen und Freunde hysterisch geworden. Sie sagten, sie sähen immer noch Flugzeuge am Himmel. Sie sagten, gleich würden Bomben fallen. Wir trafen uns alle bei SB , und ich überredete die ganze Gruppe, ins Krankenhaus zu gehen, da wir Blut spenden müssten. Also sind wir dorthin marschiert. Doch es gab keinen, dem wir hätten Blut spenden können, weil niemand mehr lebte.
»Ich habe erkannt«, erkläre ich Dr. R, »dass ich total schlecht mit den kleinen, banalen Dingen und Problemen des Alltags umgehen kann. Mit Katastrophen komme ich sehr viel besser klar.«
Da ich so nah am St. Vincent’s Hospital wohne, verfolge ich die
Outsider
-Kunst, die an den Mauern des Gebäudes in Form von »Vermisstenanzeigen« erblüht. Es gibt Familien, die es sich leisten können, ihre Anzeigen zu laminieren, mit fünf verschiedenen Telefonnummern und Kontaktadressen darauf. Und die kaum lesbaren Anzeigen, die aussehen, als seien sie im Supermarkt kopiert worden. Wenn der Regen die schlecht gedruckten und die auf Spanisch wegspült, setze ich mich auf den Gehsteig und weine. Ich setze mich jeden Tag zu ihnen, weil ich nichts anderes tun kann, als zu sagen: »Es tut mir leid« oder »Seht
Weitere Kostenlose Bücher