Deiner Seele Grab: Kommissar Dühnforts sechster Fall (Ein Kommissar-Dühnfort-Krimi) (German Edition)
unterschätzen.
Fahl zeichnete sich ein Hauch von Morgendämmerung über den Hausdächern ab. Oder waren es die Lichter der Stadt? Anjela entschloss sich, ein wenig zu schlafen, kletterte auf die Rückbank und streckte sich auf dem Ledersitz aus. Die Reisetasche mit den geklauten Klamotten diente ihr als Kopfkissen. Hoffentlich entdeckte sie keiner der Anwohner pennend im Auto. Falls doch, würde er sicher die Bullen rufen. Bald fiel sie in einen unruhigen Halbschlaf. Bilder und Erinnerungen durchpflügten ihn. Wieder sah sie die Kommandantin stöhnend auf dem Boden liegen. Aus der Küche kam der Mann im weißen Overall. Neben ihr erschien ein dunkler Schatten. Anjela schreckte hoch. Er konnte sie nicht niedergeschlagen haben. Es sei denn, seine Arme waren drei Meter lang. Es musste noch jemand da gewesen sein. Jemand, der hinter der Tür gestanden hatte, als sie die Wohnung betreten hatte.
Und dann war der Kerl vorm Krankenhaus aufgetaucht und in der Tiefgarage. Wie hatte er herausgefunden, wo sie war? Das Telefonat! Hallo Schatz … Es dauert noch ein bisschen. Ich fahre noch bei der Versicherung vorbei … in der Ridlerstraße. In der Ridlerstraße! Anne hatte mit ihm telefoniert und ihm gesagt, wohin sie fuhr. Sie war seine Helferin. Anjela stöhnte. Wie blöd konnte man nur sein? Gutgläubig war sie auf diese scheinheiligen Lügen hereingefallen und zu dieser Frau ins Auto gestiegen und hatte so beiden in die Hände gespielt. Anjela drehte sich auf die Seite. Wenn das so war, dann war sie wenigstens eines ihrer zahlreichen Probleme los. Dann hatte Anne ihren Wagen nämlich garantiert nicht gestohlen gemeldet. Sie konnten nicht riskieren, dass sie von der Polizei geschnappt wurde.
Kurz nach sieben wachte sie wieder auf. Sie fühlte sich völlig zerschlagen und war hungrig. Eigentlich musste sie nicht bis Mittag hier warten. Mit dem Navi suchte sie das nächstgelegene Schwimmbad und fuhr hin. Erstaunlich, wie viele Leute morgens um halb acht schwimmen gingen. Anjela löste ein Ticket am Automaten und verschwand mit ihrer Reisetasche in den Umkleideräumen. Duschen konnte sie vergessen. Sie hatte keine Folie, um den Brustverband zu schützen. Also wusch sie sich, so gut es ging. Eine halbe Stunde später verließ sie das Bad wieder. Mit dem bunten Kopftuch, das sie noch immer über dem Verband trug, sah sie aus wie eine türkische Putzfrau. Eine verprügelte türkische Putzfrau. Trotz der inzwischen verschorften Schrammen im Gesicht achtete niemand auf sie. In einem Stehcafé trank sie einen Becher Kaffee und aß zwei Brötchen mit Butter und Honig. Um halb neun steuerte sie wieder das Haus an, in dem Sergej ein letztes Mal schlief. Seine Uhr lief ab. Langsam und stetig. Tick, tack, tick, tack. Sie lenkte den Wagen in eine Parkbucht, stellte den Motor ab, nahm das Gemüsemesser aus der Tasche und behielt den Eingang im Auge.
Lange hatte sie darüber nachgedacht, wie sie es tun würde. Die Klinge konnte abbrechen, falls sie auf eine Rippe oder das Brustbein traf. Ein Stich würde nicht genügen, es sei denn, sie traf gleich das Herz, falls dieser Hund überhaupt eines hatte. Zu riskant. Körperlich war er ihr überlegen. Es musste rasend schnell gehen und sicher sein. Sie hatte nur eine Chance, und nur eine Sekunde. Ein Stich musste genügen. Sie wusste, wie es funktionieren würde. Sergej würde gar nicht kapieren, wie ihm geschah.
Konzentriert beobachtete sie Straße und Haus. Das Westend war eine Wohngegend für die besseren Leute. Hier ging keiner morgens um sechs zur Arbeit. Zwischen halb neun und neun fuhren sie mit ihren glänzenden Schlitten aus den Garagen. Später steuerten die Putzfrauen von der U-Bahn-Haltestelle kommend auf die Häuser zu, in denen sie den Dreck der Herrschaften wegräumten. Abends gingen diese Herren in den Puff oder ließen sich ein junges Mädchen in ein Hotelzimmer liefern, manche sogar ins Büro. Herrenabend im Konferenzraum. Rudelficken auf dem Tisch, Vergewaltigungsspielchen auf dem Kopierer, Analverkehr in der Kaffeeküche. Ein bisschen Strangulieren im Lift. Nur manchmal ging das schief. Da vergaß sich so ein Scheißkerl, und dann landete ein Mädchen im Müllcontainer oder in einem Erdloch irgendwo auf einem verlassenen Fabrikgelände. So wie Olia.
Anjela atmete scharf aus. Olia. Wie Schwestern waren sie gewesen.
Warum hatten sie Sergej geglaubt? Einen Job in einem Hotel hatte er ihnen versprochen. Zimmermädchen. Fünf Euro die Stunde. Ein Vermögen. Sie waren so
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