Delfinarium: Roman (German Edition)
musste, um den blutigen Köder zu erreichen. Dann bohrten sich die Widerhaken tief in den Wolfsrachen. Am nächsten Morgen konnte der Jäger oder Bauer oder Schäfer den Wolf vom Baum schneiden.
Ich stelle mir ein Altländer Kind vor, das nachts von einem schaurigen Geheul wach geworden ist und in seiner Kammer unter dem Dach des Fachwerkhauses auf dem Bett kauert, die Decke um die Schultern gelegt, und aus dem Fenster starrt, wo im großen Apfelbaum im Garten ein riesiger, schwarzer Wolf vom Wind hin und her bewegt wird.
Ich blicke mich um. Kein Oberalter, keine freundliche Museumsangestellte mit Dutt, niemand.
Unter der Überschrift Sagen und Mythen lese ich auf der Tafel daneben die Geschichte vom Altländer Wolfsmann.
Ein gezähmter Wolf habe einst den jungen Edelmann vom Gut Francop beim Spielen übel zugerichtet und hätte in der Folge getötet werden müssen. Unter ungeklärten Umständen sei später in einer Vollmondnacht die schöne Tochter vom Jordanhof verschwunden. Der entstellte Edelmann sei unglücklich in die Jordantochter verliebt gewesen. Auch heute noch gehe unter den alten Leuten das Gerücht um, dass es auf dem Jordanhof spuke, dass dort der Wolfsmann von Francop sein Unwesen treibe.
Und ich lese, dass sich das gesamte Alte Land 80 Zentimeter unterhalb des Meeresspiegels befindet, genau wie der biblische Fluss Jordan.
Mir wird schwummerig zumute, unheimlich.
Ich frage mich, was ich eigentlich genau vom Oberalten will, und was er von mir, schließlich hat er mich angesprochen. Was ich mir davon verspreche. Ich bin nicht sicher, ob ich glücklich bin, wenn ich ihn antreffe.
Im Erdgeschoss ist er nicht. Ich steige langsam eine knarzende Holztreppe hoch, die in das Dachgeschoss führt.
»Was bedeutet das eigentlich, Oberalter vom Alten Land?«, hatte ich am Telefon gefragt, bevor wir auflegten.
»Ich bin der Vorsteher der Totenbrüderschaft«, hatte er gesagt. »Der Altländer Totenbrüderschaft. Ich verwalte die Lade und lade zum Ladetag ein. Das geht hier seit dem 18. Jahrhundert so, immer zwei Oberalte. Seit mein Bruder gestorben ist, bin ich der einzige und vermutlich letzte Oberalte vom Alten Land.«
»Oh«, hatte ich gesagt und dann aufgelegt.
Der Oberalte sitzt in einem Büro unter einem Dachfenster, ich kann ihn durch die Scheibe einer Tür erkennen. Die Tür ist geschlossen, er trägt eine Brille auf der Nase und scheint in Papiere auf dem Schreibtisch versunken. Er hat mich noch nicht bemerkt. Schräg hinter dem Oberalten hängt ein Ölgemälde an der Wand, das einen Uhu vor einem nachtschwarzen Hintergrund auf einem Ast mit zwei dunkelgrünen Blättern zeigt.
Ich frage mich, wie er wissen konnte, dass ich aus dem Alten Land bin.
Ich schleiche zwei Schritte und kann seine Socken unter dem Schreibtisch erkennen. Der Oberalte vom Alten Land trägt Motivsocken, die Socken sind grau mit Pinguinen darauf.
Er hat seine Hände gefaltet und lächelt mich faltig an wie eine Schildkröte. Er hat mich entdeckt, er winkt mir auffordernd zu. Und ich habe nicht einmal Zivildienst im Altenheim gemacht, wo man lernt, wie man respektvoll mit verwirrten älteren Mitbürgern umgeht.
Mir wird das zu vage, zu unheimlich, der Alte. Ich winke freundlich zurück, drehe mich um meine Achse und gehe schneller, als ich will, die Treppe hinunter.
Ich fahre mit dem Fahrrad zum Skymarkt in Finkenwerder, das ist mein Lieblingssupermarkt, auch wenn der teurer ist als der Aldi um die Ecke. Supermärkte beruhigen mich, die wirklich wirkliche Welt. Ich mag den Namen und das Logo, und ich finde es angenehm, dass ich nicht alles aus irgendwelchen Kartons greifen muss. Alles ist hübsch und liebevoll für mich ausgestellt und dekoriert. Und außerdem ist es nicht mein Geld, das ich ausgebe. Ich kaufe ein, mein Vater bezahlt, das ist die Arbeitsteilung. Er hat keine Vorstellung davon, was man im Haushalt benötigt, was man essen kann oder nicht, deshalb gehe ich einkaufen. Würde es nach ihm gehen, wir ernährten uns von Vogelfutter, jeden Tag ein Jod-S-11-Körnchen, und wir nippten ein Schlückchen Wasser dazu. Für ihn ist es schon eine handfeste Überraschung, dass man im Haushalt Klopapier benötigt, zum Beispiel.
Ich schiebe meinen Wagen durch die Gänge. Plötzlich wird das Licht heller. Susann steht im Haushaltsgang mit dem Rücken zu mir. Es hat etwas mit ihren Haaren zu tun. Sie scheint die Gläschen mit Babybrei zu betrachten. Ich habe sie noch nie außerhalb des Hauses gesehen, wenn sie nicht in
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