Delfinarium: Roman (German Edition)
leise wie möglich steige ich hinter ihm die Treppe hoch. Er hat die Tür zu Susanns Zimmer geöffnet.
»Guck mal«, sagt er, »guck dir das mal an.«
Ich stehe in der Tür, während er noch einmal ins Erdgeschoss schleicht, ich komme mir vor wie im Schullandheim. Henry hat eine Taschenlampe von unten geholt, die er mir in die Hand drückt.
»Guck sie dir mal an«, sagt er, und als ich zögere: »Mach, sie schläft ganz fest, sie wacht nicht auf, bestimmt.«
Ich richte den Kegel der Taschenlampe auf Susanns Gesicht. Ihr Haar liegt um sie herum auf dem Kissen ausgebreitet. Sie hat den Kopf zur Seite gedreht. Ihr Mund steht offen. Ihre Augen sind weit geöffnet. Erschrocken lasse ich das Licht der Taschenlampe erlöschen. Henry kichert.
»Kannst wieder anmachen, sie schläft. Sie schläft immer mit offenen Augen seit dem Koma, irre, nicht?«
Mit der Taschenlampe reiße ich das Bild noch einmal aus dem Dunkel. Susann schlafend mit offenen Augen.
Zu Hause greife ich zum Telefon, es ist spät, aber ich kann nicht anders.
»Pet?«
Ich fühle mich wie ein schlechter Schwimmer, der in unruhiger See endlich den Kopf über Wasser kriegt und Luft holt.
»Gibt es bei dieser Airbus-Geschichte irgendeine Aufgabe, die ich übernehmen kann? Kann ich helfen, kann ich mich da irgendwie einbringen?«
Ich brauche dringend Boden unter den Füßen, mein Leben ist zu schwammig geworden. Gerade würde ich mich sogar über einen Bürojob freuen, irgendetwas, meiner geistigen Gesundheit zuliebe.
Sie sagt: »Wenn du unbedingt etwas tun willst, dann komm mit, wenn die Airbus-Mitarbeiter auf dem Deich gegen uns demonstrieren. Zehntausend sollen es werden. Das wird eine heiße Kiste, das kann ganz schön emotional werden. Wir müssen unbedingt dagegenhalten.«
»Und was kann ich da machen?«, frage ich.
»Genau das Gleiche wie ich, Gegenflugblätter verteilen, diskutieren, für die Wahrheit einstehen.«
»Okay«, sage ich und sehe mich schon in schimmernder Rüstung auf den Zinnen des Deiches die Ungläubigen aufspießen, Flugblätter voller Wahrheit auf der Spitze meiner Lanze.
10. Uhu
Ich laufe durch die Stadt, hetze eine Straße hinunter. Es ist irgendeine Hafengegend, die mir vage bekannt vorkommt, aber ich kann die Umgebung nicht einordnen. Es sieht alles real aus, aber gleichzeitig wirkt es wie unter Wasser, als wäre die Wirklichkeit geflutet, eine Unterwasserwelt. Die Luft hängt voller algenartiger Elemente, die mich an selbst gebastelte Mobiles aus Transparentpapier erinnern, schwebend und sich im Raum bewegend, unheimlich. Irgendeine fremde Macht hat Einfluss über die Stadt gewonnen. Wenn ich an die schwebenden Formen und Streifen gerate, es sind jetzt auch schwarze Streifen darunter, kleben sie an mir fest. Der Boden ist voll von diesem Zeug. Ich betrachte die Sohlen meiner Turnschuhe, die voller Schleim sind. Von zwei transparenten Spuren über mir im Himmel tröpfelt es klebrig, durchsichtig, gallertartig auf den Boden. Wie zwei durchsichtige Stromkabel hängen diese Spuren in der Luft. Ich suche in einem Holzverschlag am Straßenrand vor dem Getröpfel Zuflucht, um nicht völlig zu verkleben. Der Unterstand gleicht einer Bushaltestelle, einige Passanten befinden sich schon darin, eine alte Frau, ein Mann mit Bart, eine Mutter mit zwei Kindern. Die Kinder weinen. Es liegt ein hoher, unangenehmer Summton in der Luft, eine Art Kreischen. Ich weiß, dass wir angegriffen werden, dass es gerade noch rechtzeitig war, sich hier zu verbergen.
Plötzlich sind Delfine in der Luft, fliegende Delfine, die keinen Unterschied zwischen Wasser oder Luft machen, dickliche, comicartige Tümmler, dunkel und kompakt, mit kurzen, kräftigen Schnäbeln. Einer saust auf den Holzverschlag zu und bremst kurz vor dem Ziel ab, er schwebt direkt vor mir und blickt mich mit Augen an, die mich an Fliegenaugen erinnern, sonderbar unsehende Augen, wie die Reflektoren in den Speichen von Fahrrädern. Ich betrachte das Ölgemalde, das von zwei anderen Delfinen hinter ihm mit den Schnäbeln durch die Luft getragen wird. Durchsichtiger Schleim läuft am Bild herunter. Es zeigt einen Uhu, der vor einem schwarzen Hintergrund auf einem Ast mit zwei dunkelgrünen Blättern sitzt. Ich wundere mich über das Bild, denn es scheint, als wollten die Delfine mir etwas damit sagen. Ich habe bloß keine Ahnung, was.
»Weißt du, was genau im Delfinarium mit ihr passiert?«
»Nö«, sagt Henry gut gelaunt. Er sieht mich mit Neon in den Brillengläsern an,
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