Delfinarium: Roman (German Edition)
breit, mehr Haare auf dem Kopf. Dann gab es einen losen Umschlag, in dem Henrys Jugendbilder waren. Und schließlich das Album mit den Bildern von Susann als jungem Mädchen. Mein Album. Das habe ich mir den ganzen Nachmittag angeschaut. Sie, in der Zeit zurückverwandelt, die selben ernsten Augen, eindringlicher fast noch auf einigen Bildern. Vor allem eins hat es mir angetan. Auf dem schaut sie mich von unten nach oben an. Die blonden Haare halblang, in den achtziger Jahren aufgenommen vielleicht, sie trägt etwas Hellblaues, die ernsten, türkisen Augen ganz groß. Es wurde still um mich herum und ich musste das Album zumachen, weil ich es nicht mehr aushielt irgendwie. Komisch, ich habe das Gefühl, ich erkenne sie auf diesem Bild, nicht oberflächlich, sondern tiefer, ich kann in sie hineinsehen, ich erkenne ihre Seele, ihr Wesen, ich sehe mitten hinein in sie, sie braucht nichts zu verschleiern. Und das Erschreckende an diesem Bild ist, dass sie gleichsam herausguckt, dass sie zurückschaut, dass sie genauso mich erkennt in meiner Art und meinem Wesen, dass ich mich genauso erkannt fühle von ihr auf diesem Foto. Ich liege im Bett und denke an das Bild, und ich muss lächeln und werde gleichzeitig traurig.
Dann höre ich ein Knacken aus dem Flur. Ich kann die Tür von Susanns Zimmer hören, die leise geschlossen wird. Dann geht die Tür zu meinem Zimmer vorsichtig auf. Susann steckt den Kopf hinein, ihr Haar schimmert im Halbdunkel. Sie trägt ein weißes Nachthemd. Sie gleitet auf das Bett zu. Ich halte die Luft an. Sie legt sich neben mich, schmiegt sich unter die Decke. Ich fühle mich steif, alles tut weh, mein Herz schlägt zum Verrücktwerden, wie eine blöde afrikanische Trommel. Ich kann den Puls überall in meinem Körper spüren, vor allem an Körperstellen, wo ich ihn gerade nicht spüren will. Susann liegt da und atmet. Das darf nicht sein. Sie ist viel älter als ich. Sie ist die Frau von Henry. Und ich habe das Gefühl, dass die Zeit angehalten ist, dass ich nicht atmen kann, dass ich werde sterben müssen in einem der nächsten Augenblicke. Ich weiß, dass sie neben mir liegt, ich weiß, dass das ihr Körper ist, dass das wirklich ist, ich spüre ihn und ich würde ihn unheimlich gerne berühren, ihre Brüste, ihre Hüften, ihr Haar, das darf nicht wahr sein. Ich kann ihre Wärme fühlen.
Dann spüre ich eine Bewegung, ein kriechendes Suchen unter der Decke, als mache sich ein kleines Tier selbstständig, ein Nagetier oder ein Eichhorn. Und dann liegt ihre Hand auf mir, auf meiner Schlafanzughose. Sie hat ihre Hand auf meinem Penis. Ich habe eine Erektion, natürlich. Es ist mir unangenehm. Ihre Hand liegt da, und dann bewegt sie sie ein ganz kleines bisschen, ihre Fingerspitzen bewegen sich kurz, und sie drückt ein wenig, übt ein ganz klein wenig Druck aus. Und ich halte die Luft an, kann nie wieder atmen. Ich lausche in das ewige Dunkel, an dessen Ende ein Stern glimmt. Ich habe die Augen geschlossen und lausche auf das, was ihre Finger auf meinem Penis tun, diese unglaublich leise Musik, und es ist das Wichtigste für mich auf der ganzen Erde. Sie lässt sich Zeit, eine ganz kleine Bewegung nur, kaum wahrnehmbar nach außen, aber nach innen richtet sie eine Verwüstung biblischen Ausmaßes an, ein tropischer Sturm tobt in mir, nur weil sich zwei Fingerkuppen wenige Millimeter bewegen, ganz langsam. Es dauert. Sie macht es geschickt, sie hält mich hin, sie hält die Luft an. Ich würde gerne ihr Gesicht sehen, aber ich muss die Augen geschlossen halten. Es geht etwas auf im Dunkel. Ich würde sie gerne küssen, in ihrem Gesicht wühlen mit meinen Lippen. Es wird heller, es wird lauter, es schwillt an, es gibt eine Bewegung, ein Aufbäumen, eine Eruption, und dann weiß ich, was die Leute meinen, wenn sie sagen, dass sie Sterne sehen. Es tut weh, kurz wird es Tag, und dann schießt es aus mir heraus in ihre Hand, das heißt, in den Stoff meiner Pyjamahose.
Da weiß ich wieder, wie es sich anfühlt, wenn man verliebt ist, ich liege da und wende meinen Kopf und möchte etwas sagen, und stattdessen küsst mich Susann stumm auf die Haare.
In der Nacht wache ich auf, aber der Platz neben mir im Bett ist leer.
11. Die Ferien meines Lebens
Susann und ich gehen durch die Apfelplantage. Es ist ein herrlicher Sommertag, die Wolken treiben wie püriert durch ein fast schmerzhaft intensives Dunkelblau und ich sehe Susann hinterher, die links und rechts die Obstbäume hinter sich lässt, die
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