Delfinarium: Roman (German Edition)
Dose leer.
Im Garten beginnt es, katzengrau zu werden. Ein Strahler geht an, den Henry so platziert hat, dass er den Vogel von unten beleuchtet, ein grotesker Eindruck, ein Horrorvogel.
Ich frage mich, warum er mir das alles erzählt. Ich bin doch nicht sein Freund, ich bin doch nur ein Betreuer.
Zurück im Zimmer macht sich Henry an einem Schrank zu schaffen und kramt Schallplatten heraus. Er legt leise Musik auf, Elvis. Ich mag Elvis, bei Elvis fühle ich mich immer zu Hause. Elvis und die Beatles, zeitlos wie Feinrippunterwäsche.
»Du magst Elvis?«, frage ich.
»Klar, und wie! Früher war ich selber Elvis.«
»Wie?«, frage ich, greife nach dem nächsten Bier.
»Ich hatte eine Elvisband, ich war Elvis, ich konnte gut singen, ich hatte sogar den Anzug und alles, auch wenn ich ihm nicht besonders ähnlich sah.« Henry grinst. »Wir haben bei so Gartenfesten gespielt und Hochzeiten und was man so macht. Einmal hat mir bei einer Gartenparty eine Omi die Zunge in den Hals gesteckt.«
Er lächelt verträumt.
»Aber irgendwann bin ich zu fett geworden, obwohl, das passt ja auch irgendwie, fetter Elvis. Na, und der Beruf kam dazwischen bei den meisten, wie das halt so geht.«
»Klar«, sage ich.
Wir hören eine Weile der Musik zu.
»Ich will dir noch was zeigen«, sagt er dann. Er steht auf und geht in den Flur, wo er eine Schublade aufzieht und herumkramt. Er kehrt mit zwei Zetteln zurück, die er vor mich auf den Tisch legt. Er knipst eine kleine Lampe hinter mir an. Zettel, natürlich, die Sprache, in der der Kosmos ganz persönlich zu mir spricht.
»Was ist das?«, frage ich.
Auf den Zetteln sind jeweils nur ein paar Buchstaben zu lesen, Kyrillisch oder Ähnliches, ich habe keine Ahnung, lesen kann ich es jedenfalls nicht.
»Das ist Russisch«, sagt Henry.
»Aha«, sage ich. »Und?«
»Faszinierend, oder?«
»Geht so«, sage ich.
»Das hat Susann aufgeschrieben. Ich hatte ihr Zettel und Stift hingelegt. Die Ärztin meinte, ich solle das machen, noch im Krankenhaus, und eines Tages hatte sie das hier aufgeschrieben. Ich kam sie besuchen, und diese Zettel lagen da. Irre, oder? Da spricht sie wochenlang nicht einen Ton, und dann schreibt sie etwas auf Russisch auf. Dabei kann sie gar kein Russisch, nicht, dass ich wüsste, nicht ein Wort, außer Nasdrowje vielleicht. Die Ärztin konnte es auch nicht erklären. Was sagst du dazu?«
»Was heißt denn das?«
»Auf dem einen steht Haus und auf dem anderen Delfin , hier auf dem. Was sagst du dazu? Wie würdest du denn das erklären, dass sie auf einmal Russisch kann?«
»Keine Ahnung«, sage ich. »Vielleicht hat sich jemand einen Scherz erlaubt, der am Zimmer vorbeikam. Kam das danach noch mal vor, hat sie öfter was auf Russisch aufgeschrieben?«
»Nö, nur dieses eine Mal.«
»Hm«, mache ich. »Hat sie mal was Russisches gesagt?«
»Nein.«
»Hat sie sonst was aufgeschrieben, auf Deutsch, meine ich?«
Henry schüttelt den Kopf.
»Echt komisch, kann ich auch nichts zu sagen.«
Ich nehme die Zettel in die Hand und fühle über sie hinweg, Diagnose: Zettel mit Stift drauf. Dann lege ich sie zurück auf den Tisch.
Wir sitzen im Lampenschein, trinken Bier und hören Elvis.
»Tja«, sagt Henry. »Schön, dass du mit an Bord bist jedenfalls. Vielleicht kriegst du ja noch mal einen anderen Blick auf sie, vielleicht geht es ja doch noch ein bisschen voran. Für mich ist das auf jeden Fall ganz wichtig.«
»Hm«, mache ich, »mal sehen.« Wir starren vor uns hin. Ich mag ihn. Wenn ich einen älteren Bruder haben wollte, ihn würde ich nicht schlecht finden, auch wenn er so viel Bier trinkt.
Ich betrachte das Ballett der Bierdosen auf der Tischplatte, ein Anblick, der mir immer gefällt, in Kneipen, auf Partys, diese Dosen- oder Flaschenversammlungen. Elvis singt I’m all shook up . Ich stelle mir Henry mit einer Tolle im Paillettenanzug vor, wie er mit einer Oma unter Lampions knutscht. Das Bild bekomme ich nicht scharf.
»Ich kann nicht mehr fahren«, sage ich.
»Du bist doch mit dem Fahrrad da«, sagt er. »Fahrradfahren geht immer. Klar kannst du fahren.«
»Kann ich nicht«, sage ich. »Ich bin zu betrunken.«
»Egal, dann fahre ich dich eben. Das Fahrrad tun wir in den Kofferraum. Ich kann immer fahren.«
»Bist du sicher?«
»Sicher bin ich sicher.« Er nuckelt an seiner Dose.
Im Flur scheint ihm noch eine Idee zu kommen.
»Warte mal, komm mal mit, ich will dir noch was zeigen.«
Henry kichert und zieht mich am Arm. So
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