Delfinarium: Roman (German Edition)
keine Zeitung mit Löchern und keinen präparierten Aktenkoffer. Ich sehe einem Giraffenkalb zu, das sich an der Seite seiner Mutter hält und versucht, die obersten Blätter von einem Busch zu zupfen.
Dann ist er da und setzt sich neben mich auf die Bank.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragt er.
»Daniel«, sage ich. Ich lausche in mich hinein. Nach einer Weile füge ich hinzu: »Martin Daniel.«
Er schaut mich an.
»Meinen Namen habe ich dir schon gesagt.«
»Hm«, mache ich.
»Angenehm, Martin«, sagt er.
Er blickt mich aus grauen Augen an und ich nicke.
»Also?«, frage ich.
»Meine Frau ist verschwunden. Sie ist an einem Wochenende vor über einem Jahr in die Stadt gefahren und dann ist sie nicht mehr zurückgekommen. Sie hatte das Auto stehenlassen, sie ist mit dem Bus gefahren. Sie wollte eine Freundin treffen in einem Café, aber dort ist sie nie angekommen. Sie war einfach weg. Verschwunden. Abgehauen oder entführt. Entführt würde ich sagen, denn ich glaube nicht, dass sie unzufrieden oder unglücklich war, sie hat nie etwas in der Richtung gesagt. Und ich hätte es gemerkt. Ich bin gleich zur Polizei gegangen nach einem Tag, habe sie als vermisst gemeldet. Aber sie haben nie etwas herausgefunden, keine Spuren.«
»Vielleicht ist ihr etwas Schlimmes passiert«, sage ich.
»Nein«, sagt er. »Ich habe immer gespürt, dass sie noch am Leben ist, das wusste ich immer, da gab es nicht die Spur eines Zweifels für mich. Na ja, jedenfalls bin ich seither herumgefahren. Ich habe sie gesucht. Und dann habe ich sie gefunden, hier im Zoo. Ich bin euch gefolgt – eine ganze Weile schon.«
Ich schaue ihn von der Seite an.
»Wieso sind Sie denn ausgerechnet in den Zoo gegangen«, sage ich, »um sie zu suchen? Wie sind Sie denn auf die Idee gekommen?«
»Das Delfinarium«, sagt er. »Delfine sind ihre Lieblingstiere. Sie ist schon immer gerne hingegangen, früher als Kind mit ihrem Vater.«
Er schaut auf seine Schuhspitzen und ich sehe eine Miniaturversion von Susann an der Hand eines imaginären Vaters durch den Tierpark spazieren, eine absurd kleine Susann, erwachsen, bloß geschrumpft. »Einmal habe ich Sie gesehen«, sage ich, »sonst nicht. Ich habe nichts gemerkt.«
»Ich weiß«, sagt er und grinst.
»Warum haben Sie nicht die Polizei angerufen?«
»Das habe ich.«
»Und?«
»Die Polizei ist zu dem Haus gefahren und hat mit dem Dicken geredet. Dann haben sie mir gesagt, dass es nicht Marie ist, dass alles seine Richtigkeit hat. Sie haben mir ihr Bedauern ausgesprochen.«
»Eben«, sage ich.
»Aber ich weiß trotzdem, dass es Marie ist«, sagt er. »Du hast doch die Fotos gesehen. Ich wusste es gleich, als ich sie gesehen habe. Sie ist es, das weißt du so gut wie ich.«
»Es ist die Frau von Henry«, sage ich. »Und ich bekomme Geld dafür, dass ich mich um sie kümmere.«
»Du bekommst Geld?«
Ich erzähle ihm meine Geschichte, wie ich sie kenne, wer ich bin, wer ich glaube, dass Susann ist, mein Bezug zu ihr, zu Henry. Ich erzähle es so ehrlich und gewissenhaft, wie es geht, ich weiß nicht wieso.
»Sie sieht nicht gut aus«, sagt er, »sie sieht immer bedrückt aus, leblos, überhaupt nicht wie die Frau, die mit mir gelebt hat.«
»Das sage ich ja«, sage ich.
»Das meine ich nicht«, sagt er.
»Hm«, mache ich.
»Gib mir eine Chance, lass mich mit ihr reden.«
»Das geht nicht«, sage ich. »Ich kann das nicht entscheiden. Ich bin bloß der Aufpasser.«
»Natürlich geht es, du musst mich bloß zu ihr lassen, dann wirst du sehen, dass alles seine Richtigkeit hat.«
»Ich weiß nicht«, sage ich.
»Glaubst du, dass ich ein Lügner bin? Glaubst du, dass ich dir eine Lügengeschichte erzähle?«
Das Problem ist, wird mir klar, dass ich ihn sympathisch finde, dass ich ihn mag. Und dass ich gerne wissen würde, wie er lebt, wie er gelebt hat mit seiner Marie. Vielleicht hat es etwas mit dem Geheimnis zu tun. Vielleicht hat es tatsächlich mit Susann zu tun.
»Ich weiß nicht«, sage ich. »Eigentlich nicht, nein.«
»Dann lass sie mich sehen.«
»Beweise«, sage ich, »ich brauche Beweise. Warum soll ich glauben, dass die Frau auf den Fotos Ihre Frau ist? Es gibt Computerprogramme. Man kann Bilder täuschend echt fälschen. Mit solchen Bildern werden Nachrichten verkauft, wird Politik gemacht, Geschichte umgeschrieben.«
»Das ist paranoid«, sagt Max Braun.
»Und selbst wenn ich es glaube«, sage ich, »wenn ich irgendwie glauben sollte, dass Marie die Frau ist, die ich
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