Delhi Love Story
bemerke einen Lichtstreifen unter Rupas Tür. Hinter der Tür läuft kaum hörbar der Fernseher.
»Tante Rupa?« Die Tür ist nicht verschlossen, ich drücke sie auf.
»Komm, probier es doch mal …«
»Entschuldige, Onkel Rajiv, aber ich su –«
Die Worte bleiben mir im Hals stecken. Er sitzt mit weit gespreizten Beinen im Lehnstuhl, die Hose ist bis zu den Knöcheln heruntergezogen. Er erstarrt.
»Ani!«
Er schließt die Schenkel, springt aus dem Sessel auf und dreht sich um. Seine Pobacken sind schlaff und braun. Hektisch zieht er sich die Hose hoch. Wie in einem schlechten Traum sehe ich, dass die Person in der
Ecke ihre Hände vom Gesicht nimmt und auf mich zu läuft. Sie wirft sich in meine Arme, ich spüre ihr Gewicht, ihre Haare reiben an meinem Hals.
»Rani!«
»Ani …«, sagt der Mann, der unser Nachbar ist und immer noch versucht, seine Hose zuzumachen, »es ist nicht so, wie es aussieht. Ich –«
Mehr höre ich mir nicht an. Ich packe Rani am Arm und laufe mit ihr die Treppen hinunter.
Ma streicht Rani die tränennassen Haare aus dem Gesicht, fährt ihr sanft mit den Fingern über die Stirn. »Ganz ruhig«, beruhigt sie die schluchzende Rani immer wieder. »Alles ist gut.«
Ich streichle Ranis Rücken, spüre, wie ihr Schluchzen langsam abebbt. Ihr Atem wird ruhiger. Ich bin unglaublich wütend, kann kaum sprechen: »Hat er dich angefasst?«, presse ich heraus.
Ihr Rücken wird unter meinen Händen ganz steif. Ma sieht mich warnend an. »Nicht jetzt«, sagt sie tonlos.
»Ma, wir müssen das wissen. Rani –«
Sie schüttelt den Kopf, vergräbt ihr Gesicht noch tiefer an Mas Schulter.
»Hat er dich jemals angefasst?«
Stille, dann schüttelt sie kaum merklich den Kopf.
»Ein Glück. Ich rufe die Polizei, Ma.«
»Nein!« Panisch fasst Rani mich an der Schulter. »Oh nein! Nein, nein! Bitte, Ani, ruf bloß nicht die Polizei!«
»Aber Rani –«
»Bitte, Tante Isha!«
»Pssst«, sagt Ma und umfasst ihr Gesicht mit beiden Händen. »Niemand ruft die Polizei.«
»Aber Ma –«
Sie schüttelt den Kopf und sieht mich wieder warnend an. Ich verkneife mir den Widerspruch. Sie hat wahrscheinlich recht. Arme Rani, sie kann nicht klar denken, sie braucht Zeit, um sich zu beruhigen. Ich gehe im Zimmer auf und ab, boxe gegen den Stuhl, die Wände, den Tisch. »Ann«, sagt Ma, »hole doch bitte ein Glas Wasser für Rani.«
Ranis Augen sind geschlossen, als ich zurückkomme. Ihre Lider sind geschwollen und gerötet. Ma nimmt das Glas und verabreicht Rani einen Schluck Wasser. Sie trinkt mit sichtlicher Mühe.
Das Telefon klingelt, ich hebe ab. »Hallo?«
»Ani? Hier ist Onkel Rajiv.«
Ma sieht mich irritiert an, als ich wütend und ohne ein Wort auflege. »Wer war das?«
»Das willst du nicht wissen.«
Wieder klingelt das Telefon. »Ma, lass es.«
Sie nimmt trotzdem ab. »Hallo? Ja, Rajiv.« Sie spricht seinen Namen wie ein Schimpfwort aus. »Ja, Rani ist hier. Nein, sie kann jetzt nicht nach oben kommen.«
Langsam und bestimmt legt sie auf. »Rani, wo sind Rupa und Chandra?«, fragt sie.
Die Frage macht Rani ganz nervös. »Sie sind Einkaufen, Tante Isha. Ich muss anfangen, das Abendessen zu kochen!«
Ich starre sie an. »Du willst doch nicht etwa dorthin zurückgehen?«
»Aber ich habe noch nicht einmal das Gemüse geschnitten. Der Reis ist nicht eingeweicht. Und –«
»Bist du verrückt? Ma, sag es ihr.«
»Ani hat recht«, sagt Ma. »Rani, du solltest nicht –«
Das Klingeln an der Tür unterbricht sie. »Ani, geh mit Rani in dein Zimmer. Ich werde nachsehen, wer es ist.«
»Aber Ma –«
»Geh schon, mein Schatz.«
Rani und ich lauschen hinter meiner Zimmertür. Ich halte ihre Hand. »Ja, Rajiv, was willst du?«, höre ich Ma fragen.
»Isha, du hast aufgelegt. Wo ist Rani? Sie ist einfach auf und davon.«
»Nun, sie ist sehr aufgewühlt.«
»Warum?«
»Ich glaube, das weißt du sehr genau.«
Die Stille scheint ewig anzudauern. Ich höre mich atmen, schnell und schwer, spüre Ranis zitternde Hand in meiner. »Ich weiß nicht, was sie dir erzählt hat«, sagt Rajiv in bemüht freundlichem Ton, »aber wahrscheinlich lügt sie.«
Empört sehe ich Rani an. Ihr Blick ist stumpf und leer.
»Unter uns, Isha, mit dem Mädchen stimmt etwas nicht. Sie rennt mir immer hinterher, findet immer einen Grund, in mein Zimmer zu kommen … das wird langsam unangenehm.«
»Du lügst!«, schreie ich so laut ich kann.
»Ani?« Ich höre, wie er einige Schritte ins Wohnzimmer geht.
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