Delia 1 - Delia, die weisse Indianerin
geflickten Kleidung und den kurz geschnittenen braunen Locken zuerst gar nicht ihre Nichte und Base Delia. Dann aber war das Staunen groß. Delia musste ihnen ihre merkwürdige Geschichte immer wieder und wieder erzählen.
Das Strafgericht, das sie eigentlich erwartet hatte, fiel aus. Onkel Johannes und Tante Ruth fühlten sich so sehr aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen, dass sie Delias Taten mit ganz anderen Augen ansahen, als sie es zu Hause getan hätten.
„Natürlich bleibst du in Amerika bei uns“, sagte Onkel Johannes. „Es hätte ja auch keinen Zweck, dich zurückzuschicken! Aber ich muss jetzt sofort über dich mit dem Kapitän sprechen.“
„Warum?“
„Ich werde die Überfahrt für dich bezahlen!“
„Nur nicht“, sagte Delia rasch. „Das wäre doch hinausgeworfenes Geld! Ich komme ja so und so mit hinüber! Und außerdem – als Schiffsjunge macht es viel mehr Spaß!“
Onkel Johannes gab sich anscheinend damit zufrieden. Später aber redete er doch mit dem Kapitän. Zwar erbot er sich nicht, wie er anfangs vorgehabt hatte, für seine Nichte zu zahlen, denn er wusste sehr gut, dass er seine Ersparnisse in der Neuen Welt noch dringend brauchen würde. Aber er hielt es doch für seine Pflicht, dem Kapitän zu erzählen, dass Delia ein Mädchen war, und das war gut so. Die Schiffsjungen hatten damals nämlich ein hartes Leben. Bei der kleinsten Ungeschicklichkeit hagelte es Ohrfeigen, und Prügel mit dem Tauende waren an der Tagesordnung. Die Matrosen waren raue Gesellen, die ihre schlechte Laune mit Vorliebe an dem Schwächsten ausließen.
Der Kapitän gab auf die Mitteilung des Onkels hin Befehl an seine Leute, den neuen Schiffsjungen keinesfalls zu züchtigen. Aber dass der kleine blinde Passagier gar kein Junge, sondern ein Mädchen war, behielt er für sich, denn es schien ihm besser so. Stattdessen teilte er Delia dem Koch zu.
Von nun an musste Delia also dem dicken, grimmigen Smutje helfen; Kartoffeln schälen, Töpfe scheuern und putzen. Das war gar keine schöne Arbeit; sie hatte jedoch den Vorteil, dass Delia sich selbst und ihren Hund anständig verpflegen konnte. Sie schmuggelte auch Sonderrationen für ihre Verwandten aus der Kombüse, denn die normale Verpflegung an Bord war schlecht, und die Auswanderer, die keine Vorräte mitgenommen hatten, mussten Hunger leiden.
In jeder freien Minute aber waren Delia und ihr Mops bei den Matrosen. Delia imponierte den harten Männern mit ihren Kletterkünsten, die sie im Zirkus gelernt hatte, und sie machte sich Freunde durch ihr Mundharmonikaspiel. Fast jeden Abend saß sie an Deck und spielte: Polkas, Ländler, Walzer und Volksweisen. Die Matrosen sangen ihr Seemannslieder vor, die sogenannten Shantys, und auch die lernte Delia nach dem Gehör spielen.
Peter, Paul und Babette beneideten sie heiß. Sie hatte es ja viel besser als die Auswandererkinder, die den größten Teil des Tages im Zwischendeck bleiben mussten, während sie, sobald sie mit der Arbeit fertig war, überall herumstromern konnte.
Am zwanzigsten Tag ihrer Reise geriet die „Gutenberg“ in einen heftigen Orkan. Fast alle Passagiere und sogar einige Matrosen wurden seekrank. Besonders heftig litten die Auswanderer, weil es ihnen an Bewegung und frischer Luft fehlte.
Delia blieb von der unangenehmen Krankheit verschont, und allein durch diese Tatsache, die eigentlich gar kein Verdienst war, errang sie die Achtung aller Matrosen.
Alle atmeten auf, als sich das Wetter endlich wieder besserte. Die Stimmung unter den Auswanderern aber wurde immer gereizter und ungeduldiger. Sie konnten es in der dumpfen Enge ihrer Kojen kaum noch aushalten, konnten die schwarze Brühe, die sich Kaffee nannte, die grünliche Brühe, die ihnen als Tee eingeschenkt wurde, kaum noch sehen. Sie hatten die ewigen Wassersuppen und den schwarzen Zwieback gründlich satt, und schon mancher bereute, die Heimat verlassen zu haben. Tante Ruth wurde blasser und blasser, Babette weinte den halben Tag, die Gesichter von Onkel Johannes und den Jungen wurden immer verbissener. Aber es half nichts. Es gab kein Zurück mehr. Ob sie wollten oder nicht, sie alle mussten ausharren.
Nur Delia genoss die Schiffsreise in vollen Zügen, trotz der Püffe und Knüffe, die ihr der Smutje versetzte, trotz der groben Arbeit, die sie verrichten musste. Die Weite des Meeres beeindruckte sie, die Kameradschaft der Matrosen machte ihr Freude. Sie lernte mit Begeisterung Taue zu spleißen und Schiffsknoten zu
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