Delia 1 - Delia, die weisse Indianerin
knüpfen. Immer seltener dachte sie an zu Hause, an die Mutter, die Schwestern und die alte Sophie zurück; es war, als ob die Wogen des Meeres ihre Erinnerungen fortschwemmten.
Die „Gutenberg“ erreichte den Golfstrom. Seltsame Seegewächse wurden im Wasser sichtbar. Es war jetzt so warm, dass Delia es vorzog, oben an Deck zu schlafen. Sie staunte, als Hein ihr fliegende Fische zeigte.
Dann wurden die ersten Landvögel sichtbar, darunter sogar eine Schleiereule, die die Matrosen zu fangen versuchten. Delia war froh, als es ihnen nicht gelang.
Die Stimmung an Bord besserte sich, denn alle spürten, dass sie dem Ziel ihrer Reise nahe waren. Nach einem unbeschreiblich schönen Sonnenuntergang wurde es wieder kühl. Am nächsten Tag regnete es. Der Wind flaute ab. Die „Gutenberg“ kam kaum noch von der Stelle. Unter den Auswanderern brach ein Streit aus, der in einer Schlägerei endete. Der Kapitän schaffte Ordnung, ein Mann wurde in Eisen gelegt.
Jetzt, zum ersten Mal, wurde soviel Wasser ausgeteilt, wie jeder haben wollte. Delia wusste, was das bedeutete: Der Kapitän rechnete mit baldiger Ankunft.
Sie stand im strömenden Regen an Deck, eingehüllt in Ölzeug, das ihr viel zu groß war, und starrte angestrengt nach vorn, als ein kleines Schiff sich näherte. Es trug eine rote Flagge mit schwarzem Kreuz – das Lotsenboot!
Delia hüpfte vor Freude wie ein Gummiball in die Höhe. Sie wartete nicht ab, bis der Lotse an Bord kam; sie rannte ins Zwischendeck, um Tante Ruth und Babette die gute Nachricht zu bringen. Die Freude war unbeschreiblich.
Aber Delia hielt es nicht lange unten. Sie lief zum Deck hinauf und kletterte in den Mastkorb. Sie wollte die erste sein, die das ferne Ufer sah, und sie fühlte sich dabei wie Kolumbus. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, nach fast drei Monaten Wasser, Wind und Sonne endlich wieder Land zu sehen; eine Hügelkette nordnordwest.
„Land in Sicht!“ schrie Delia. „Land in Sicht!“
Keinen der Auswanderer hielt es jetzt mehr unten. Sie stürmten an Deck, warfen ihre Strohsäcke über Bord, schrien aus voller Kehle: „Hurra!“ Alle Strapazen waren vergessen.
Fünf Stunden später tauchten aus Regen und Dunkelheit die Lichter auf, die New York bedeuteten. Die Anker rasselten nieder.
Noch am Abend des gleichen Tages wurden die Passagiere mit einem Dampfboot an Land gebracht.
Delia hatte immer noch ein wenig Angst, dass die amerikanischen Behörden sie wieder zurückschicken würden. Aber davon konnte keine Rede sein. Die Polizisten und Zollbeamten machten kaum Kontrollen, sondern empfingen jeden der Deutschen, die jetzt nicht mehr Aus-, sondern Einwanderer geworden waren, mit dem größten Entgegenkommen. Der riesige Kontinent Nordamerika war damals, vor weit mehr als hundert Jahren, nur schwach besiedelt, und um das Land wirklich in Besitz zu nehmen, brauchte man Menschen, die bereit waren, die Strapazen des Rodens und Siedelns und auch der unausbleiblichen Kämpfe mit den Indianern auf sich zu nehmen. Niemand dachte daran, Fragen nach Delias Eltern zu stellen, sondern man nahm es als ganz selbstverständlich hin, dass sie mit Onkel und Tante nach Amerika gekommen war. Es stieß sich auch niemand daran, dass sie, ein Mädchen, in Jungenkleidern herumlief.
All dies gab Delia das Gefühl, wirklich in einer neuen, einer freien Welt zu sein. Aber diese Freiheit hatte auch etwas Beängstigendes. Die Einwanderer wurden noch im Hafen von einer Schar deutscher Landsleute empfangen, zum größten Teil verdächtigen Gestalten, die, wie Delia bald merkte, es nur darauf abgesehen hatten, die Neulinge, die „Greenhorns“, wie man sie hier nannte, zu übervorteilen und sie um ihre sauer erworbenen Ersparnisse zu bringen.
„Bei uns zu Haus“, sagte Delia, „hätte es so etwas nicht gegeben! Wachtmeister Schmittke hätte diese Kerle längst eingesperrt!“
„Stimmt“, sagte Onkel Johannes. „Trotzdem gefällt es mir hier besser als in unseren deutschen Kleinstaaten. Die Freiheit kann niemals ein Geschenk sein; ohne Gefahr und Risiko ist sie nicht denkbar!“
Das leuchtete Delia ein, denn sie selbst hatte ja oft genug in Gefahr geschwebt, seit sie die Geborgenheit des Elternhauses verlassen hatte.
New York imponierte ihr sehr. Nicht weil die Stadt im eigentlichen Sinne schön war. Die Straßen waren damals schmutzig; neben prächtigen Bürgerhäusern gab es verwahrloste Gebäude und wahre Elendsquartiere.
Aber alles war so anders als in Schönau. Dort hatte
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