Delphi Saemtliche Werke von Theodor Fontane (Illustrierte) (German Edition)
dies nicht auf die beständig als Entschuldigung geltend gemachten »Verhältnisse« schieben – so schlimm liegen diese »Verhältnisse« nicht mehr; wir sind nur einfach in bezug auf alles, was Repräsentation angeht, schlechter erzogen und haben nicht Lust, uns, um irgendeines beliebigen Fremden willen, zu genieren. Das geschieht erst allenfalls, wenn es einen Vorteil mit sich bringt. Wir lassen nach der Seite hin viel zu wünschen übrig. Was immer die Fehler der Engländer sein mögen, in diesem Punkte, wozu sich noch manch andere gesellen, sind sie viel liebenswürdiger. Es ging in meines Gastfreundes Hause ganz einfach her; wir nahmen unseren Tee und musizierten, ich mußte sogar singen – der Gott sei Dank einzige Fall in meinem Leben –, und der älteste Sohn, der bald herausfühlte, daß ich mich für Literatur und Theater interessierte, fing dementsprechend an, berühmte Macbeth- und Hamlet-Stellen im Stile von Macready, des damals berühmtesten Shakespeare-Darstellers, zu zitieren. Er schnitt unglaubliche Gesichter dabei, machte es aber im übrigen ganz gut. Ich war sehr glücklich, so vieler Liebenswürdigkeit zu begegnen, und schlief, als wir uns im Familienzimmer getrennt hatten, oben im Fremdenzimmer ungewiegt. Als ich zum Frühstück kam, war der Vater schon fort; der Sohn brachte mich bis zur Station, und, wie verheißen, zu guter Stunde war ich wieder in meinem Hotel an der Londonbrücke.
So war das Leben an den Nachmittagen. Aber auch von den Vormittagen, wo wir London selbst absuchten, habe ich noch in Kürze zu berichten. Wir begannen mit dem Osten, weil uns dieser wie vor der Türe lag. Das erste war der Tunnel . Er bereitete mir eine große Enttäuschung. Ein so kühn gedachtes und auch ausgeführtes Unternehmen dieser unter das Flußbett getriebene Stollen war, so machte derselbe doch unmittelbar bloß den Eindruck, als schritte man durch einen etwas verlängerten Festungstorweg. Großen Eindruck macht immer nur das , was einem im Moment auf die Sinne fällt, man muß die Größe direkt fühlen ; ist man aber gezwungen, sich diese Größe erst herauszurechnen, kommt man erst auf Umwegen und mit Hülfe von allerlei Vorstellungen zu der Erkenntnis: »Jawohl, das ist eigentlich was Großes«, so ist es um die Wirkung geschehen.
Der Tunnel versagte, desto mächtiger wirkte der Tower . Im allgemeinen geht es freilich auch bei historischen Punkten ohne Zuhülfenahme von Vorstellungen, ohne Heraufbeschwörung bestimmter Bilder nicht gut ab; es gibt aber doch Örtlichkeiten, denen man ihre historische Bedeutung auch ohne Kommentar sofort abfühlt . Und dazu gehört ganz eminent der Tower, mehr als irgendein anderer Punkt, den ich kennengelernt habe, selbst das Kapitol, das Forum und den Palatin nicht ausgenommen. Auch den, der nichts von englischer Geschichte weiß, überkommt angesichts dieser, ich weiß nicht, ob mehr pittoresken oder grotesken Steinmassen ein gewisses Gruseln. Wovon ich damals den größten Eindruck empfing, ob von Traitors Gate oder von der mit weißen Steinen ausgelegten Stelle, darauf das Schafott der Jane Gray stand, oder von dem Block, auf dem das Haupt Anna Bulens fiel, weiß ich nicht mehr sicher, glaube aber fast, daß ich einem sonderbaren Internierungsort in Gestalt eines etwas flachgedrückten Backofens den Preis zuerkennen mußte. Dieser unter einer Treppenbiegung angebrachte Backofen war, zwanzig oder dreißig Jahre lang, das Gefängnis eines unter Heinrich VIII. lebenden Höflings, des Lords Cholmondeley, der zu zweifacher Berühmtheit gelangt ist, erstens historisch durch seinen qualvollen Backofenaufenthalt, zweitens linguistisch durch die etwas verflixte Aussprache seines Namens. Cholmondeley wird nämlich »Dschumli« ausgesprochen und spielt dadurch in allen englischen Grammatiken eine Rolle.
Das war im Osten von London. Tags darauf waren wir im Westen, und zwar in Westminster. Von dem »Palast von Westminster« – den Parlamentshäusern – war, bis auf einen nach dem großen Feuer im Anfang der vierziger Jahre stehengebliebenen Rest, nichts mehr zu sehen, aber Westminster-Hall und Westminster-Abbey wurden andächtig besucht. Westminster-Hall mit seinen merkwürdigen Holzkonstruktionen ist weniger imposant für Laien als für Fachleute, während Westminster-Abbey auch den einfachen Menschen sofort gefangennimmt, und zwar mehr als irgendeine sonstige gotische Kirchenarchitektur, auch die berühmtesten französisch-belgischen Kathedralen – unter denen
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