Dem Leben Sinn geben
behandelt: Vor allem Haustiere können vollgültige Familienmitglieder sein, mit denen Gespräche geführt werden wie mit Menschen; liebevolle Fürsorge wird ihnen zuteil, zuweilen mehr als einem Menschen. Auch wenn es dem Tier an Merkmalen einer Person fehlen sollte, nämlich an den Fähigkeiten zur Reflexion und Selbstreflexion, kann es dennoch eine ausgeprägte Persönlichkeit mit sehr eigenen Charakterzügen sein. Stirbt ein geliebtes Tier, will keinem, der in einer Beziehung zu ihm stand, das Wort »verendet« über die Lippen kommen: Es passt nicht für jemanden, der eine so schmerzliche Lückehinterlässt und wie ein Mensch betrauert wird. Ein feierliches Begräbnis im Garten oder auf einem Tierfriedhof erscheint angemessen.
Beziehungen zu Tieren können ebenso Ersatzbeziehungen sein: Dann wird die Liebe zu ihnen zum festen Bestandteil des Lebens für einen Menschen, der mit anderen Menschen nicht leben will oder kann. Manch einer zieht die Tierliebe jeder anderen Liebe vor, auch wenn es merkwürdig erscheint, ausgerechnet bei der Beziehung zum Menschentier jede Tierliebe zu verweigern. Je schwieriger die Beziehungen zwischen Menschen, desto eher wird einem Tier die Rolle des privilegierten Partners anvertraut, und sogar für die erwünschte Beziehung zweier zu einem Dritten kommt außer einem Kind auch ein Tier in Betracht. Menschen können auf dem Umweg über das Tier freilich nicht nur zusammenfinden, sondern auch ihre Auseinandersetzungen austragen, wie es der armen, ahnungslosen Katze widerfährt, mit der Julien (Jean Gabin) eines Tages in der Tür steht. Seine Ehefrau Clémence (Simone Signoret) hasst das Tier vom ersten Moment an mit einer Inbrunst, die nicht nachlässt, sodass sie die Katze irgendwann in einem Anfall von Verzweiflung umbringt. Juliens Antwort darauf ist hart: »Ich werde nie mehr mit dir sprechen!« Das hatte er zuvor allerdings auch schon so gehalten in dieser Hass-Ehe, die der Film Die Katze nach einem Roman von Georges Simenon so meisterhaft porträtiert (Regie Pierre Granier-Deferre, Frankreich 1971).
Bei aller Liebe sind Beziehungen zu Tieren zugleich von Macht durchdrungen, die noch dazu zur einseitigen Herrschaft tendiert. Nicht nur bei deutlich erkennbaren Machtausübungen ist das so, wie etwa bei der Jagd auf Tiere oder bei ihrer Domestikation um des Nutzens willen (Florian Werner, Die Kuh. Leben, Werk und Wirkung , 2009). Auch im Alltag istdas Verhältnis zu Tieren davon geprägt, dass über sie weit unproblematischer verfügt werden kann als über Menschen. Menschen erfahren dabei eine eigene Macht, ohne allzu große Widerstände in Kauf nehmen zu müssen. Dass zumindest das Haustier sich meist fraglos unterordnet, erleichtert den Umgang mit ihm erheblich. Gewollt oder ungewollt reicht die Macht bis zu der Allmacht, nicht nur über Lust und Schmerz, sondern auch über Leben und Tod der Tiere entscheiden zu können. Wie alle, die im Machtspiel unterlegen sind, sind die Tiere im Gegenzug dazu gezwungen, Mimik und Gestik des Machthabers stets genau im Blick zu behalten und zutreffend zu interpretieren, um zu wissen, woran sie sind – aber vermutlich ist ihnen dies nicht einmal artfremd, denn auch gegenüber Artgenossen höheren Ranges im Rudel haben sie sich so zu verhalten. In Einzelfällen setzen Menschen ihre Tiere schließlich bedenkenlos als Machtmittel gegen andere Menschen ein; stellvertretend für Herrchen soll der Hund das Revier gegen sie behaupten, zumindest akustisch kann dies schon der kleinste Terrier leisten. Als Stellvertreter des Menschen auf den Trottoirs der Stadt darf der Hund sogar das Geschäft verrichten, von dem Herrchen nur träumt: Auf die Gesellschaft zu sch… (Erhard Oeser, Hund und Mensch. Die Geschichte einer Beziehung , 2004). Sollten die Tiere über all den Zumutungen, denen sie ausgesetzt sind, psychisch auffällig werden, stehen Therapeuten zur Verfügung, die wissen, dass tierische Bedürfnisse nicht immer mit den menschlichen übereinstimmen. Zuweilen therapieren sie dann den Menschen.
Eine Gegenmacht gegen willkürliche Machtausübung ist in der Beziehung zum Tier, ähnlich wie in der Beziehung zwischen Menschen, das Recht . Es geht aus der immer neuen Frage nach Gerechtigkeit hervor, angetrieben von der Unruhe überdie extreme Asymmetrie in einem so ungleichen Verhältnis: Unter welchen Bedingungen kann eine Machtausübung über wehrlose Wesen gerecht sein? Aus welchen Gründen? Wie ist es möglich, für Ausgleich zu sorgen? Welchen
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