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Demian

Demian

Titel: Demian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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Vorschriften auf dem Bürgersteige zu wandeln. Aber Sie nicht. Sie fliegen weiter, wie es sich für einen tüchtigen Burschen gehört. Und siehe, da entdecken Sie das Wunderliche, daß Sie allmählich Herr darüber werden, daß zu der großen allgemeinen Kraft, die Sie fortreißt, eine feine, kleine, eigene Kraft kommt, ein Organ, ein Steuer! Das ist famos.
    Ohne das ginge man willenlos in die Lüfte, das tun zum Beispiel die Wahnsinni-gen. Ihnen sind tiefere Ahnungen gegeben als den Leuten auf dem Bürgersteig, aber Sie haben keinen Schlüssel und kein Steuer dazu, und sausen ins Boden-lose. Sie aber, Sinclair, Sie machen die Sache! Und wie, bitte. Das wissen Sie wohl noch gar nicht? Sie machen es mit einem neuen Organ, mit einem Atem-regulator. Und nun können Sie sehen, wie wenig persönlich‘ Ihre Seele in ihrer
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    Tiefe ist. Sie erfindet nämlich diesen Regulator nicht! Er ist nicht neu! Er ist eine Anleihe, er existiert seit Jahrtausenden. Er ist das Gleichgewichtsorgan der Fische, die Schwimmblase. Und tatsächlich gibt es ein paar wenige seltsame und konservative Fischarten noch heute, bei denen die Schwimmblase zugleich eine Art Lunge ist und unter Umständen richtig zum Atmen dienen kann. Also haargenau wie die Lunge, die Sie im Traum als Fliegerblase benutzen!“
    Er brachte mir sogar einen Band Zoologie und zeigte mir Namen und Ab-
    bildungen jener altmodischen Fische. Und ich fühlte in mir, mit einem eigentümlichen Schauer, eine Funktion aus frühen Entwicklungsepochen lebendig.

71
Jakobs Kampf
    Was ich von dem sonderbaren Musiker Pistorius über Abraxas erfuhr, kann ich nicht in Kürze wiedererzählen. Das Wichtigste aber, was ich bei ihm lernte, war ein weiterer Schritt auf dem Wege zu mir selbst. Ich war damals, mit meinen etwa achtzehn Jahren, ein ungewöhnlicher junger Mensch, in hundert Dingen frühreif, in hundert andern Dingen sehr zurück und hilflos. Wenn ich mich je und je mit anderen verglich, war ich oft stolz und eingebildet gewesen, ebensooft aber niedergedrückt und gedemütigt. Oft hatte ich mich für ein Genie angesehen, oft für halb verrückt. Es gelang mir nicht, Freuden und Leben der Altersgenossen mitzumachen, und oft hatte ich mich in Vorwürfen und Sorgen verzehrt, als sei ich hoffnungslos von ihnen getrennt, als sei mir das Leben verschlossen.
    Pistorius, welcher selbst ein ausgewachsener Sonderling war, lehrte mich den Mut und die Achtung vor mir selbst bewahren. Indem er in meinen Worten, in meinen Träumen, in meinen Phantasien und Gedanken stets Wertvolles fand, sie stets ernst nahm und ernsthaft besprach, gab er mir das Beispiel.
    Sie haben mir erzählt“, sagte er, daß Sie die Musik darum lieben, weil
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    sie nicht moralisch sei. Meinetwegen. Aber Sie selber müssen eben auch kein Moralist sein! Sie dürfen sich nicht mit andern vergleichen, und wenn die Natur Sie zur Fledermaus geschaffen hat, dürfen Sie sich nicht zum Vogel Strauß machen wollen. Sie halten sich manchmal für sonderbar, Sie werfen sich vor, daß Sie andere Wege gehen als die meisten. Das müssen Sie verlernen. Blicken Sie ins Feuer, blicken Sie in die Wolken, und sobald die Ahnungen kommen und die Stimmen in Ihrer Seele anfangen zu sprechen, dann überlassen Sie sich ihnen und fragen Sie ja nicht erst, ob das wohl auch dem Herrn Lehrer oder dem Herrn Papa oder irgendeinem lieben Gott passe oder lieb sei! Damit verdirbt man sich. Damit kommt man auf den Bürgersteig und wird ein Fossil.
    Lieber Sinclair, unser Gott heißt Abraxas, und er ist Gott und ist Satan, er hat die lichte und die dunkle Welt in sich. Abraxas hat gegen keinen Ihrer Gedanken, gegen keinen Ihrer Träume etwas einzuwenden. Vergessen Sie das nie. Aber er verläßt Sie, wenn Sie einmal tadellos und normal geworden sind.
    Dann verläßt er Sie und sucht sich einen neuen Topf, um seine Gedanken drin zu kochen.“

72
    Unter allen meinen Träumen war jener dunkle Liebestraum der treueste.
    Oft, oft habe ich ihn geträumt, trat unterm Wappenvogel weg in unser altes Haus, wollte die Mutter an mich ziehen und hielt statt ihrer das große, halb männliche, halb mütterliche Weib umfaßt, vor der ich Furcht hatte und zu der mich doch das glühendste Verlangen zog. Und diesen Traum konnte ich meinem Freunde nie erzählen. Ihn behielt ich zurück, wenn ich ihm alles andre erschlossen hatte. Er war mein Winkel, mein Geheimnis, meine Zuflucht.
    Wenn ich bedrückt war, dann bat ich Pistorius, er möge mir die Passa-
    caglia des alten

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