Demudis
Sternentag, dem sechsten des Januars im Jahre des Herrn 1276, dem Abschluss der sonnenärmsten Zeit des Jahres und dem Beginn des neuen Siegesganges des Lichts, war ein Zeichen ihrer Berufung gewesen, auf dem Weg des Herrn zu wandeln. Mit fünf Jahren kam Hrotsuita in die von der Begine Gertrud geleitete Schule in Bingen. Anfeindungen vertrieben die kleine fromme Schar um Gertrud und die ihr anvertrau ten Kinder, und sie mussten flüchten. Aufnahme fanden sie bei den Benediktinerinnen von Andernach, deren Äbtissin Gertrud später werden sollte. Hrotsuita lernte mit großem Eifer und gewann in den freien Künsten, besonders in Latein und in der Musik, große Meisterschaft. Im Laufe der Zeit jedoch tauschte sie das Weltliche gegen das weit wertvollere Geistliche und versenkte sich in die Heilige Schrift sowie die Werke des heiligen Augustinus und des heiligen Gregors. Ihre Bemühungen wurden ihr vom Herrn durch sein Erscheinen gelohnt. Während ihr äußeres Leben von Schlichtheit, Ruhe und Gleichmäßigkeit geprägt war, hatte sie seit diesem Tage einen beständigen und aufwühlenden Verkehr mit der Überwelt. Wie ein Schatten folgten jeder dieser Begegnungen mit dem Jenseits niederwerfende Schmerzenlager, die jedoch Schwester Hrotsuitas Milde gegen jedermann keinen Abbruch taten, sodass die Schwestern sie nach Gertruds Heimgang zur Äbtissin wählten.
Bruder Dudo und Hanß hätten keine bessere Bleibe für diese Nacht finden können. Die Schwestern teilten das – allerdings kärgliche – Mahl aus Brot und heißer Suppe mit ihnen und bereiteten ihnen eine vorzügliche Schlafstatt, indem sie in ihrer ansonsten verwaisten Herberge das Ofenfeuer einheizten und ihnen eine mit heißem Wasser gefüllte Wärmeflasche brachten, um die durchfrorenen Decken anzuwärmen.
Anderntags brachen sie in der Frühe wieder auf. Die besten Wünsche der Schwestern begleiteten sie.
Als sie sich auf halbem Wege um die Sext Andernach näherten, erinnerte sich Hanß an Bruder Paul, den Abt der Andernacher Barfüßer, den er vor vielen Jahren einmal auf Pilgerschaft nach Rom kennen gelernt hatte. Bruder Paul war sehr unglücklich gewesen.
»Er hatte mit einer Magd einen Sohn gezeugt«, erzählte Hanß Bruder Dudo.
Bruder Dudo lachte. »Wahrlich, was für ein Missgeschick.«
»Nein, nein«, widersprach Hanß heftig. »Das hat ihn ganz im Gegenteil mit größtem Stolz erfüllt. Sie lebte auch als seine Konkubine nächst dem Kloster, und er konnte sehen, wie sein Sohn wuchs und gedieh.«
»Hört sich nach glücklicher Fügung an«, meinte Bruder Dudo. »Du sprachst hingegen davon, wie unglücklich Bruder Paul war.«
»Ja, eines verhängnisvollen Tages war ein großer Graf, der aus Katzenelnbogen nämlich, zu Gast bei den Andernacher Barfüßern, und ihm gefiel die besagte Magd sehr gut. Seine Augen ruhten in Wohlgefallen auf ihr. Bruder Paul hat mir auch ihre Schönheit in den leuchtendsten Farben geschildert.«
»Und sie erwiderte das Werben des Grafen?«, fragte Bruder Dudo wissbegierig.
»Durchaus«, bestätigte Hanß.
»Das mag schmerzlich für diesen Bruder Paul gewesen sein«, überlegte Bruder Dudo und wog sein Haupt bedächtig hin und her. »Aber eine Magd und ein Graf, das kann doch nicht mehr sein als eine Minne für einige wenige Nächte. Konnte dein Bruder das nicht verschmerzen?«
»Mein Bruder!«, schnaubte Hanß. »Was erlaubst du dir?«
»Sei nicht so empfindlich«, forderte Bruder Dudo. »Er ist dein Bruder in Christo. Nicht anders als ich.«
Hanß besann sich und berichtete weiter. »Es kam schlimmer für Bruder Paul. Nachdem offenbar geworden war, dass die Magd vornehmer Herkunft war, nämlich eine von Berg, und sich bloß darum als Magd verdingt hatte, weil sie sich der von ihrem Vater angeordneten Heirat entziehen wollte, nahm der Graf dieselbe zu sich.«
»Und was ist aus ihrem Sohn geworden?«, erkundigte sich Bruder Dudo anteilnehmend.
»Nun ja, Bruder Paul und seine Konkubine hatten sich darauf geeinigt, ihn als den Sohn ihres vormaligen Verlobten auszugeben, der, soweit ich mich entsinne, der Herr von Riehl war. Diese Lüge hielt sie auch dem Grafen gegenüber aufrecht. Sie nahm ihren Sohn mit, und Bruder Paul sollte, soweit mir bekannt ist, nie wieder etwas von ihm hören … Überdies war er sich sicher, dass sie sogar ein weiteres Kind von ihm unter ihrem Herzen trug.«
»Der Graf ist weithin bekannt und besitzt bei uns in Köln gar Bürgerrecht«, wandte Bruder Dudo ein. »Walram ist übrigens sein
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