Den Oridongo hinauf (German Edition)
es ja mich. Weil alles so anders geworden ist, als es war, und weil ich weiß, dass ich die Chance, die sich mir geboten hat, jetzt nutzen muss. Ich habe ein Alter erreicht, in dem alles plötzlich ein Ende nehmen kann. Deshalb unternehme ich nichts gegen diese schlaflosen Stunden dann und wann, es tut eigentlich gut, sie zu haben. Sie sind voller beruhigender Geräusche. Das Feuer im Ofen, der Kater, der schnurrt oder im Schlaf witzige Geräusche ausstößt, der Wind, der um die Hausecken fegt. Oder Berit, die im Nebenzimmer schnarcht.
Ich muss wieder an den Unfall denken, auf den ich gestoßen bin. Das ist ja nur natürlich. Solche Dinge setzen sich tiefer fest, als man wirklich weiß. Da komme ich auf dem Rad angefahren, versunken in meine eigenen Gedanken. Dann das viele Blut, das zerstörte Auto, und der weinende alte Mann. Tharald und ich, die für Ordnung sorgen, zusammen mit zwei anderen Männern, die sich ebenfalls hier eingefunden haben. Wir schleppen das Tier von der Straße und streuen Sand auf das Blut. Während die Lensmannsassistentin Jenny Lydersen mich über die Schulter des alten Mannes hinweg ansieht. Mich betrachtet, während sie dem Pechvogel, der eigentlich schon vor geraumer Zeit seinen Führerschein hätte abgeben müssen, etwas Beruhigendes sagt.
Tharald, der sich eine Zigarette dreht und flüstert: »Du warst nicht zufällig unten in Skurberg, Ulf?«
»Nein. In Skurberg habe ich nichts zu suchen.«
»Da sagst du was Wahres. Und wie geht die Arbeit im Holländerhaus?«
»Die geht gut. Wir werden rechtzeitig fertig sein, ehe sie kommen.«
Dann reden wir eine Weile über Berit. Wir kommen überein, dass es schön ist, dass jemand bei ihr ist, nach dem, was passiert ist. Dass es gut ist, dass sie nicht mehr allein in Viken sitzt.
So ungefähr.
Aber nun denke ich an etwas, woran ich schon oft gedacht habe. Etwas, das mich nicht im Geringsten angeht, aus dem ich aber einfach nicht schlau werde. Und zwar die Arbeitssituation dieser beiden. Tharald Reine und Jenny Lydersen. Denn obwohl sie nicht gleichzeitig Dienst haben, ist es auch eine Tatsache, dass sie jede Menge Zeit miteinander verbringen. Nur diese beiden. Bei Einsätzen oder unten im Lensmannsbüro im Gemeindehaus. Und sie sind ja beide anderweitig verheiratet. Für mich würde das aller Wahrscheinlichkeit nach ein Problem bedeuten. Fast jeden Tag einer attraktiven Frau wie Jenny Lydersen so nahe zu sein. Ich meine nicht, dass ich mir Sorgen machen würde, was meine Taten betrifft. Aber was wäre mit den Gedanken? Außerdem haben sie ja keine normale Arbeit. Sie arbeiten in einer Branche, wo sie immer wieder großen gefühlsmäßigen Belastungen ausgesetzt sind. Wo immer das Böse passiert. Eine Mutter setzt mit dem Auto zurück und überfährt ihr einziges Kind. Ein Inselbewohner findet das Leben so schwer, dass er in die Scheune geht und das Schrotgewehr in den Mund schiebt. Die gesichtslose Leiche, die an Land geschwemmt wird, mit Krabben und Tangflöhen in den Augenhöhlen. Die nervenaufreibenden Konflikte. Beschuldigungen. Beschimpfungen. Faustkämpfe zwischen Mann und Frau, die kleinen Kinder, die sich die Augen zuhalten und sich hinter dem Sofa verkriechen. Das alles und noch viel, viel mehr. Und sie haben nur einander. Keine Krisengruppe und keine Psychologen. Alles, was sie sehen und mitmachen, müssen sie zusammen ertragen, sie können diesen Schmerz nicht mit nach Hause nehmen, denn dann ist es kein Zuhause mehr, sondern ein Irrenhaus, ein Schmerzenszentrum. Sie müssen einander trösten, denke ich. Füreinander da sein. Sich gegenseitig in den Arm nehmen. Streicheln. Aber, aber. Wie können sie es vermeiden, dass sie zu weit gehen? Wie können sie es verhindern, dass ihre Hände sich plötzlich an Orten befinden, wo sie nicht sein dürften?
Ich mache mir also meine schmutzigen Vorstellungen darüber, was sich wohl unten im Lensmannsbüro abspielt, wenn sich eine Gelegenheit bietet. Aber ich bin nicht sicher, und zwar aus zwei Gründen. Erstens ist es mir einfach unmöglich, mir Berit an Jennys Stelle vorzustellen, ohne in Kummer und Angst begraben zu werden. Allein mit Tharald, auf dem Weg von einem Tatort zum anderen. Sie müssen also grundlegend anders sein als ich. Fast wie von einem anderen Planeten. Zweitens sind es die beiden, die neben Berit mir hier oben die größte menschliche Wärme erwiesen haben. Durch ihr Schweigen. Durch ihre Stummheit. Was, wenn sie in Wirklichkeit Lügner sind?
Ich weiß noch, wie ich
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