Den Oridongo hinauf (German Edition)
die Mohammedaner schon fast verloren haben, und ich habe zu verstehen geglaubt, warum die Klerke herkommen wollen, warum sie ihre eigenen Wurzeln aufgeben, ihre Sprache und ihre Kultur, wie Zehntausende andere, die jetzt den Weg in weniger arabisch dominierte Länder im Westen antreten. Aber hier stehen sie auf ihrem Rasen, der zwar nicht viel größer ist als eine Briefmarke, aber dennoch. Eine winzig kleine Idylle.
Berit vergrößert das Bild. Horst und Evelyn sind in den Vierzigern. Er in Jeans und mit einem kernigen Dreitagebart von der Sorte, die mir einfach nicht gelingt. Sie in Shorts und einem adretten roten Oberteil, das uns klarmacht, dass die beiden Kinder ihre Milch wohl aus der Flasche bekommen haben. »Tom«. Steht unter dem Bild. Und »Paula«. Letztere hat den Daumen im Mund. Tom starrt uns mit offenem, fast ein wenig trotzigem Blick an. Er ist bereit, es mit der Welt aufzunehmen.
Berit klickt »about us« an, und ehe wir uns versehen, werden wir überhäuft mit Informationen über Tun und Lassen dieser Familie, über Herkunft, Ausbildung. Arbeit, sie Sachbearbeiterin bei einer Computerfirma, er Ingenieur, Tom in der Schule, er ist zwölf, die Kleine fünf.
Na gut. Ich begreife ja nicht, wozu das alles gut sein soll, warum Einzelne, nein, sehr Viele, sich auf diese Weise vor aller Welt darstellen, aber es spielt ja keine Rolle, solange niemand mir meine eigene Homepage aufzwingt. Ich sehe sie schon vor mir. Berit und ich auf der Felskuppe vor dem Haus. »Berit und ich vor unserem Haus«, nur, damit die Leute in Osaka oder auf dem Dorf in Ruanda darüber informiert sind. Das da? Das ist unser Fahnenmast. Pflaumenbaum und Schleifstein.
Berit klickt weiter, und plötzlich nehmen wir am Zukunftstraum dieser Familie teil, wir sehen ein Winterbild von Vaksøy. Sonne über dem verschneiten Tryndanut, Ausblick auf den Leuchtturm von Skarven. Fischkutter am Anleger in Laugen. Die Fähre. Möwen. Hunderte von Möwen. Vater und Mutter Klerk fotografieren sich gegenseitig mit den Kindern bei der Kirche und am Ende der Landzunge im Storfjord.
»Komisch«, sagt Berit. »Ich hatte wirklich keine Ahnung, dass sie schon mal hier oben waren.«
Ich auch nicht. Und ich merke, dass diese Information in mir eine gewisse Verärgerung auslöst. Hier lesen wir in der Zeitung über diese niederländische Familie, die herkommen, die sich niederlassen und den Rest ihres Lebens hier auf Vaksøy verbringen will. Unter uns anderen, die in dieser Landschaft entweder geboren sind, oder die denselben Entschluss gefasst haben wie sie. Und weil die Gemeinde dringend neue Steuerzahler braucht, bekommen sie das alte Schulhaus zum Schnäppchenpreis, werden sie auf der ersten Seite der Zeitung willkommen geheißen. Spontan wird ein Empfangskomitee gegründet. Das sich danach zu einer Arbeitstruppe entwickelt und dafür sorgt, dass das Holländerhaus einzugsbereit ist, wenn die Familie aus dem Flachland eintrifft. Eine Arbeitstruppe, der ich mich vollständig unaufgefordert anschließe und von der ich ein Teil bin. Und ich denke mir, dass ich wohl kaum der Einzige bin, der sich darauf gefreut hat, ihnen die Insel zu zeigen. Tryndanut und Lovatn. Den Blick auf den Leuchtturm von Skarven. Und jetzt stellt es sich also heraus, dass sie sich mitten im Winter inkognito hier herumgeschlichen haben. Ich meine … Sie können doch nicht ihre richtigen Namen genannt haben, wenn sie im Hotel auf Binnøya übernachtet haben? Diese Nachricht hätte sich doch sofort verbreitet. Das Ganze zeugt von einer gewissen Arroganz. Vielleicht haben sie den Arbeitstrupp sogar am Werk beobachtet. Zum Beispiel von einem Mietwagen aus, den sie sich in Trondheim besorgt haben. Da haben sie dann gesessen und zugesehen, wie die Gratisarbeiter den alten Fußboden auf den Hofplatz geworfen haben. Oder das neue Material ins Haus geschafft.
Das sage ich zu Berit.
Sie findet, das sei kein Grund zur Aufregung.
Ich gehe ins Wohnzimmer und schalte mit hartem wütenden Druck auf die Fernbedienung den Fernseher ein.
In dieser Nacht träume ich von dem großen Strom. Dem Oridongo. Dem namenlosen Schiff, das sich durch den hitzeflirrenden Dschungel weiterkämpft. Ich stehe oben an Deck und sehe die Sonne in der grünen Hölle versinken, durch das dichte Laubwerk. Überall um mich herum sitzen und liegen dösende Menschen, ein alter Mann spielt Mundharmonika. Ein trauriger, wehmütiger Klang, der eine Saite in mir anschlägt, ich werde von einer Melancholie überwältigt,
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