Den Oridongo hinauf (German Edition)
mich klein machen, und das hörte sie gar nicht gern, das merkte ich deutlich, deshalb versuchte ich zu lachen. Ein Scherz.
Wir müssten erst einmal abwarten, meinte sie. Ich müsse ihr Zeit lassen.
Jeden Abend, wenn sie ins Badezimmer ging, um sich für die Nacht zurechtzumachen, verließ ich das Haus und lief eine Weile über die Wege, halb verwirrt, für eine Stunde oder zwei.
Wenn ich zurückkam, legte ich mich auf den Diwan im Wohnzimmer und zog die gehäkelte Decke über mich.
Was bedeutete »Zeit lassen«? Für einen, der den Oridongo hinaufgefahren war?
Als ich später im Bett liege, kehren meine Gedanken zum Gemeindehaus zurück, zu dem Vortrag, den ich halten soll, genauer gesagt, dem Interview, das ich geben soll, über den ersten Eindruck, den ein Neuankömmling von Vaksøy und dessen Bewohnern hat. Als ich so daliege, in einem Zelt 346 Meter über dem Meer mitten in der Nacht, kommt mir das alles vollständig ungefährlich vor, fast wie eine witzige kleine Herausforderung. Ich kann ja nur sagen, wie es ist, oder war. Und wie war es eigentlich? Wann beginnen die Eindrücke eines Ortes, den man nie zuvor besucht hat, und der Menschen, die dort leben? Jedenfalls nicht in dem Augenblick, in dem man ankommt. Sie beginnen, wenn nicht zwangsläufig in dem Moment, in dem man von diesem Ort redet, so doch dann, wenn man anfängt, ihn sich vorzustellen, was in der Praxis bedeutet, wenn man plant, für kürzere oder längere Zeit dorthin zu reisen. Eines Tages. Wenn die Reise vorüber ist. Wenn die Quellen des Oridongo erreicht sind. Eine neue Reise. Sich in den Zug nach Trondheim setzen. Dann mit dem Bus weiter nach Norden. Mit der Fähre hinüber nach Vaksøy. Wie oft unternehme ich diese Reise in der Fantasie, ehe ich sie in Wirklichkeit antrete? Zahllose Male. Seit ich sie zum ersten Mal sehe. Nein. Seit ich den ersten Brief erhalte. Zeitweise steige ich mehrmals pro Tag und die halbe Nacht hindurch in den Zug nach Trondheim, ich reise allein oder zusammen mit anderen, Tagzug, Nachtzug. Ich kann lesen und träumen und mich in das Abteil hineinversetzen, kann die Stahlräder über die Schienen rattern hören, ein Jahr, noch eins, ich reise und reise nach Trondheim und weiter, durch die Täler an die Küste, mit dem Bus oder mit erträumten Privatautos, ich fahre durch die prachtvolle Natur, und als ich eines frühen Morgens, mitten am Tag oder mitten in der Nacht, Binnøya erreiche, schaue ich nach Vaksøy hinüber, wo Berit in Viken auf mich wartet, in dem weißen Haus, das sie so viele Jahre mit Magne geteilt hat. Und ich sehe sie vor mir, in Sommerkleidern und Wintermänteln, ich sehe sie zum Laden radeln, und ich sehe, wie sie in ihrem eigenen Bett liegt und schläft. Und ich sehe sie nackt. Das schon. Aber es ist nicht so wie früher. Zum Glück ist nichts so wie früher. Keine Unruhe. Keine gemeinen Fantasien und Vorstellungen. Ich sehe sie einfach nackt im Badezimmer, wo sie sich im Spiegel betrachtet, ehe sie schlafen geht, oder wenn sie gerade aufgestanden ist. Das ist schön. Das ist alles. Aber es gehört natürlich nicht in eine Geschichte über mich und Vaksøy, so wenig, wie auch nur ein Wort über den Oridongo. Ich will mit einer Geschichte beginnen, die sehr gut wahr sein könnte, zum Beispiel, dass Mutter mir als Kind von Vaksøy erzählt, es kann sich um Erinnerungen an Ferien aus einer Zeit handeln, ehe ich den Schritt in die Welt gemacht hatte, aus der Zeit, als sie noch meinen Vater hatte, und nur ihn, sie selbst und Vater auf Radtour die Küste hoch, jung und frisch verliebt. Ja. Von dieser Radtour höre ich meine ganze Kindheit hindurch in regelmäßigen Abständen, mir ist klar – und ich mache das auch den Einheimischen klar –, dass diese Radtour, diese Ferienreise, für meine Mutter etwas ganz Besonderes ist, ich mache ihnen ganz einfach klar, dass es wohl nicht ganz unmöglich ist, dass ich hier oben auf der Insel gezeugt worden bin, zum Beispiel auf dem alten Zeltplatz, den es jetzt nicht mehr gibt, der dort lag, wo jetzt die Schule steht. Und dann ergibt es sich also viele Jahre später, dass ich, in reiferem Alter, zurückkehre, um hier zu leben und zu wohnen, bis dass der Tod mich hole. Und auf Ellen Svendsens Frage, warum ich das noch niemandem erzählt habe, diesen witzigen Zufall, werde ich wohl so ungefähr antworten, dass es mir Freude gemacht hat, es für mich zu behalten, bis jetzt, wo mir das große Vertrauen erwiesen wird, dass ich der Inselbevölkerung von meiner
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