Den Oridongo hinauf (German Edition)
andere und edlere Tat war, als dass ich jetzt freiwillig den langen Weg zu ihr heraufgereist bin.
Dann eines Tages, es ist der Tag, an dem ich aus dem Bett aufstehe, sage ich zu ihr, dass ich den Lensmann aufsuchen möchte. Nein, sie soll mir nicht widersprechen. Ich möchte mit Tharald Reine sprechen.
Ich erwache und bin im Himmel. Ich weiß es noch nicht, denn lange bleibe ich im Schlafsack liegen und starre den blauen Kreis oben im Zelt an, das Loch im Rentierfell. Ich liege dort und denke, dass die Eingeborenen einen Namen für eben dieses Loch haben, und dass ein Same oder zum Beispiel ein nordamerikanischer Indianer vielleicht bis zu vierhundert unterschiedliche Bezeichnungen für das Loch haben, aus dem der Rauch aufsteigt, Riss im Fell, je nachdem, wie das Wetter draußen ist oder welche Laune man selbst hat, Hafarifa, Kastanbatt, Huma usw. Traurig drinnen und Regen draußen, froh aber Schneesturm, Windjammer und Erwartung, ja, so wie ein Inuit angeblich vier Millionen verschiedene Wörter für Schnee hat. Und ich liege hier ohne eine einzige Bezeichnung für diesen Riss im Fell, außer eben »Riss im Fell« oder »Loch im Fell«, eventuell »Rauchloch«. Seltsam. Irgendwie ein wenig ärmlich. Wenn ich wenigstens tausend Wörter für Asphalt oder U-Bahn hätte. So liege ich hier und reiße kleine Witze und mache mich lustig über die Kultur, aus der ich komme, die Kultur, zu der ich immer noch gehöre, ehe ich mich dem fast unfassbaren blauen Licht des Himmels stelle, da oben zwischen den von den Rentieren hinterlassenen Mänteln und Jacken, ja, dem blauen Licht des Himmelsgewölbes, das zu mir heruntertropft, wie ich hier so liege, und zugleich nehme ich den Geruch von Schnee wahr, den Duft von Schnee, der über Nacht gefallen ist, er füllt den Raum, und als ich aufstehe, spüre ich, dass eine Ehrfurcht mich erfüllt, eine Gewissheit, dass etwas Großes geschehen wird, eine zitternde Erwartung.
Und als ich die Stiefel anziehe und hinausschreite … denn das tue ich. Ich
schreite hinaus
und hinein in dieses Schönste des Schönen, in ein Bild der Welt, das ich noch nie gesehen oder gespürt habe, und das erste Wort, das mir einfällt, ist ein Wort, das ich während meiner fünfzig Jahre auf Erden kaum je ausgesprochen habe, nämlich
Segen
, aber so erlebe ich diese Landschaft, die sich jetzt zu allen Seiten um mich ausbreitet: als gesegnet. Ich kann das nicht erklären. Am Steilhang unterhalb des Tryndanut liegt der Schnee als komplizierte Zeichnungen in den Spalten im fast schwarzen Berg, es ist wie eine geheime und erstaunlich schöne Schrift, wie ein Brief, den der Wind über Nacht geschrieben hat, und ich kann es nicht verstehen und soll es nicht verstehen, ich kann es nur sehen und in mich aufnehmen, ehe die Sonnenwärme es auswischt, und als ich mich umdrehe, sehe ich den Seidenschleier des Schnees, der das Gras bedeckt, der das Gras durch die weiße Decke scheinen lässt, und die goldenen Blätter der Zwergbirken, die glühen wie Tropfen aus geschmolzenem Gold unten an den Hängen, Millionen, Milliarden, und das Tryndavatn wie ein leuchtender grüner Saphir, ein einziger Sonnenspiegel mit segelnden Möwen, weiße Scherben durch die kristallklare Luft, und ich merke, dass etwas mich packt, denn das ist die Welt und es ist zugleich außerhalb der Welt, es ist etwas, das mich packt und das in mir aufsteigt, und das alle meine Sinne gleichzeitig trifft, ich bleibe zunächst stehen und schluchze, weil Weinen mir nicht leichtfällt, aber dann merke ich, dass es doch leicht sein kann, und dann löst sich etwas in mir, es ist wie eine Lawine, die durch alles jagt, was ich bin und gewesen bin, ehe das Weinen in harten Stößen kommt, da stehe ich und weine, wie ich noch nie zuvor geweint habe, während mich eine Wärme erfüllt, von den Zehenspitzen bis hinauf in die Haarwurzeln, genauer gesagt, bis in die winzigen Krater, in denen meine Haare in den Jahren vor dem Oridongo ihre Wurzeln hatten. Und ich weine vor Dankbarkeit ihr gegenüber, die dort unten in Viken schläft, oder die vermutlich soeben aufgestanden ist, die sich jetzt im Haus zu schaffen macht und ihre Alltäglichkeiten erledigt, sich die Zähne putzt, Kaffee aufsetzt oder mit dem Kater redet, es ist dieses Gefühl, dass ein Kreis sich geschlossen hat, dass das Leben endlich zur Ruhe gekommen ist, zurück zu der Harmonie gefunden hat, in der alles begonnen hat, endlich wieder dort nach den vielen Jahren in Chaos und Unverträglichkeit, aber
Weitere Kostenlose Bücher