Den Oridongo hinauf (German Edition)
in einem etwas anderen Farbton. Dort drinnen haben sie gesessen und ihre Fantasien ausgeheckt, vielleicht sogar unter fiktiven Namen, und eine von ihnen, das lässt sich leider nicht wegdiskutieren, war meine eigene Berit, die sich damals vielleicht Gunhild oder Tuva nannte. Zusammen mit Bendik Haga, dem »Parteigenossen«, der auf die Insel zurückgekehrt war, nachdem er vierzehn Tage vor dem letzten Examen sein Architekturstudium in Trondheim abgebrochen hatte, um stattdessen im Reich der Kindheit dem Volk als Busfahrer zu dienen – näher kann er an das Proletariat nicht herankommen, da die Fischmehlfabrik in Laugen schon längst stillgelegt worden ist, als direkte Folge des Nein des norwegischen Volkes zur Europäischen Gemeinschaft.
Und nun sitzt er hier Abend für Abend, allein nach seiner zweiten Scheidung, und sieht sich verblödende Dokusoaps an, und dabei bohrt er sich in der Nase und trinkt Tee oder Bier, je nachdem, ob er am nächsten Tag Früh- oder Spätdienst hat.
So ist das nämlich.
Warum ich hier stehe? So? Weil er mich beleidigt hat. Weil ich das Gefühl habe, ihn meinerseits zu beleidigen, wenn ich mich in der Dunkelheit verstecke und ihn in seiner ganzen Einsamkeit sehe. Allein in einem Haus auf einer windgebeutelten Insel.
Keine Frau. Nicht einmal eine Katze oder ein Kanarienvogel.
Sie legt die Arme um mich, und ich spüre ihre Wange an meiner Schulter. Spüre, wie alles von mir wegfließt, wenn sie so bei mir steht und mich umarmt.
Es ist Schluss mit allem Alten. Es ist vorbei.
So denke ich am vierten Tag.
14
Und ich stehe auf und gehe unter die Dusche, am fünften Tag nach dem Fortgang van der Klerks und des Jungen, ich ziehe neue saubere Kleider an, denn ich habe einen Termin beim Zahnarzt in Laugen, eine Füllung ist seit zwei Tagen locker, und ich habe das Gefühl, dass sie jeden Moment herausfallen kann – später wird mir das seltsam vorkommen, dass ich sofort anrufe und für diesen Tag einen Termin erhalte, denn ich bin ein Meister des Aufschiebens, und wem geht es denn anders, wir schieben den Besuch beim Zahnarzt auf, solange es nicht wehtut, man braucht ja wohl nicht ich zu sein, um es so zu halten. Da bin ich mir zumindest ziemlich sicher. Später, in Magnes blauer Windjacke und auf Magnes Dreirad, dem blau lackierten Moped, fahre ich in Richtung Laugen, und es ist ein klarer und schöner Herbsttag mit starken Farben an den Hängen, aber ungefähr auf halber Strecke ziehen dichte Nebelbänke vom Meer herein, und ich höre Magnes Stimme, die mich ermahnt, vorsichtig zu fahren, was ich auch tue, ich war immer schon ein vorsichtiger Mann, ich bewege mich im Schneckentempo durch die dichte Wolkendecke, die sich über die Felder schleppt.
Und in der Praxis im Gemeindehaus von Laugen tut Zahnarzt Leif Utne das, wozu er auf die Erde gekommen ist, er macht sich in meinem Mund zu schaffen, außer der Füllung gibt es noch ein Loch, das ich gar nicht bemerkt habe, und ich setze mich nicht zur Wehr, wie ich das in jungen Jahren getan habe, sondern liege gehorsam im Stuhl und gebe mich hin, während aus den Lautsprechern an der Wand klassische Musik strömt.
Als Kind bekam ich nach einem Zahnarztbesuch immer eine Belohnung. Mutter ging mit mir zu ihrem Zahnarzt unten im Zentrum, in der Skippergate, das weiß ich noch, es passierte dreimal pro Jahr, sie hatte kein Vertrauen zum Schulzahnarzt, ich weiß nicht, aus welchem Grund. Und nach dem Doppeltermin, ich zuerst, danach sie, gingen wir zu Steen & Strøm, wo ich mir ein Tier aus hartem Kunststoff aussuchen durfte, einen Bären, einen Elefanten, einen Tiger oder einen Löwen, ich sammelte sie – ich kann mich noch an den Geruch in der Spielwarenabteilung erinnern, und daran, dass alle Dschungeltiere in kleinen Fächern in großen grauen Pappkartons steckten.
Und später, lange nachdem ich erwachsen geworden war, lange nachdem Mutter in die Erde gebettet worden war, behielt ich diese Gewohnheit bei, selbst jetzt noch, wo ein Besuch beim Zahnarzt nicht mehr mit Entsetzen und Grausen und dem Untergang der Welt verbunden ist.
Nach vollendeter Behandlung gehe ich also die Treppen zum Buch- und Plattenladen hinunter und greife zu einer CD-Kassette mit fünf »Scheiben«, wie Berit das ein wenig altmodisch noch immer nennt, es ist Keith Jarretts »The Impulse Years 1973–1974«, zu einem erfreulichen Preis. Ich weiß, dass sie sich darüber freuen wird. Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht wissen kann, ist, dass just diese CD – oder
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