Den Oridongo hinauf (German Edition)
eben vom Geist erfüllt wie ein Laienprediger, ich weiß, dass ich recht habe, und dass ich das Gute und Wahre vertrete, und da sollen sie doch in dieser elenden Cafeteria sitzen und sich den Mund zerreißen oder SMSe verschicken, stell dir vor, Ulf Vågsvik, der aus dem Süden, ist ganz ohne Grund ausgerastet. Ist restlos durchgedreht!
Und ich fahre vorsichtig durch den kalten Nebel. Kilometer um Kilometer in Richtung Viken, wo Berit wartet. Bereue ich inzwischen? Ja. Das tue ich. Weil ich alle wegen der törichten Reden eines Einzelnen bestraft habe. Andererseits: Sie sind genau so, wie ich es ihnen gerade gesagt habe. Sie sitzen hier oben und bohren sich selbst im Nabel. Sie haben keinerlei Perspektive. Für sie heißt es nur Ich, Ich, Ich – und nun also diese Brücke, die Brücke, die haben zu müssen sie sich aus irgendeinem Grund einbilden, um sich vor allem zu retten, von Arbeitslosigkeit bis zu gescheiterten Ehen. Hier draußen kann man wirklich nicht einmal Bauchgrimmen haben oder ein Ziehen in einem Eckzahn – wenn nicht diese elende Brücke zu dem Zeitpunkt fertig ist, auf den sie sich mit der hart unter Druck stehenden Regierung geeinigt haben. Klimakatastrophe? Eisbärensterben? Völkermord im Kongo? Ja, das ist schlimm. Aber doch nur Staub und Krümel im Vergleich zu dieser Brücke. Wenn man ihnen zuhört, wenn sie es richtig schlimm treiben, könnte man glauben, dass diese Brücke nicht über den Sund nach Binnøya führen soll, sondern gleich ins Himmelreich, wo Gott selbst vor Freude weint. Endlich in direkter Verbindung mit den Auserwählten. Den Bewohnern einer Insel vor der norwegischen Nordwestküste.
Ja, so ist es also an jenem Tag, am fünften Tag, ich bin hochgestimmt und zugleich ein wenig niedergeschlagen, froh, weil ich den Druck erleichtern konnte, ein wenig traurig, weil ich weiß, dass Berit aller Wahrscheinlichkeit nach schon Bescheid weiß, mir ist absolut klar, was sie von solchen Auftritten hält.
Aber alles wird doch so ganz anders gehen, als ich und alle anderen uns das vorstellen konnten. Ich werde zwar zu diesem Zeitpunkt eingehüllt in eine Wolke aus negativ geladener Energie vonseiten der Beleidigten, dick und eiskalt wie der Nebel, den ich mit etwa zwanzig Stundenkilometern physisch durchqueren muss. Aber dieser Zustand wird nur noch ungefähr eine weitere Stunde vorhalten, denn als ich zu der kleinen, ein wenig gefährlichen scharfen Kurve beim stillgelegten Gemischtwarenladen von Krages komme, sehe ich Tom van der Klerk auf der alten Milchrampe sitzen und mit den Beinen baumeln.
15
Ich bremse. Halte auf der anderen Straßenseite am Straßengraben. Ich habe das Gefühl, in eine andere Wirklichkeit gefahren zu sein. Zum Beispiel voll in die Handlung eines Romans von Stephen King. Es ist unheimlich. Für einen Moment setze ich mir in den Kopf, dass ich tot bin. Dass ich die scharfen Kurven nicht geschafft habe, und dass ich mich jetzt auf der Anderen Seite befinde. Wo mich also dieser Junge, der fünf Tage vor mir hier angekommen ist, bereits erwartet. Vielleicht ist es so, geht es mir durch den Kopf. Dass ich jetzt an der Reihe damit bin, auf der Milchrampe zu sitzen und auf den Nächsten zu warten. Dass es eben so läuft.
Einige Sekunden voller Unsinn.
Aber das Bild ist so stark. Der Nebel, der ab und zu vom Wind zerfetzt wird. Der Junge, der auf der Milchrampe sitzt und mit den Beinen baumelt. Der mich mit einer Miene ansieht, die … Ja, was denn eigentlich? Er ist einfach total ausdruckslos. Er sieht mich an, als wäre ich ein Teil des Nebels. Und wenn ich dann später diese kurze Szene träume, nicht einmal, sondern viele, viele Male, diesen kurzen Augenblick, nachdem ich das Moped angehalten und die Füße auf den Asphalt gesetzt habe, dann passiert Folgendes: Er verdreht die Augen. Er zeigt mir die weiße Rückseite seiner Augäpfel.
Jedes einzelne Mal. Im Traum.
Während er in Wirklichkeit einfach durch mich hindurchsieht.
Aber wie lange stehe ich so? Sicher nur einige Sekunden. Als ich dann vom Moped steige und die Straße überqueren will, braust in hohem Tempo ein Auto vorüber, und ich denke, fast. Die Fahrer hier auf der Insel sind einfach wahnsinnig.
Er trägt eine große altmodische Daunenjacke, sie ist zu weit, die Ärmel sind so lang, dass seine Hände nicht zu sehen sind. Eine dunkelblaue Daunenjacke.
An den Füßen hat er Stiefel, die schon aus der Mode geraten waren, als ich noch klein war.
Das – die Stiefel und die Daunenjacke, dazu ein
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