Den Tod im Blick- Numbers 1
bedenkend, »was du da erzählst. Aber wenn es so ist, wie du glaubst, dann solltest du es ihnen sagen. Sie können Tests machen, die dich exkulpieren, sie können deine Kleidung auf Sprengstoff untersuchen.«
»Sie meinen, mich aufs Kreuz legen.«
Jetzt wurde er sauer. »Nein!«, schrie er und schlug mit der Faust gegen die Tür. »So ist das nicht in unserem Land. Es gibt Kontrollinstanzen, Überprüfungen, Abwägungen. Du musst dem System vertrauen. Deswegen leben wir in einen zivilisierten Land.«
Ich schloss die Augen. Was soll man Menschen sagen, die entweder selbst Teil des Systems sind oder derart naiv, dass sie den ganzen Establishment-Scheiß glauben? Ich kam sowieso nicht gegen sie an. Ich kannte ja nicht mal die richtigen Worte, um sie dazu zu bringen, mir zuzuhören, mich zu respektieren; wir sprachen nicht dieselbe Sprache.
Sie ließen die Polizei rein, um mit mir zu reden, und wie immer brachten sie auch eine Sozialarbeiterin mit. Die Hoffnung, dass Simon und der Rektor mich vor alldem beschützen würden, war zwar schon im Lauf der Diskussion über unsere »zivilisierte Gesellschaft« verblasst, trotzdem empfand ich es als Betrug. Ich beantwortete keine Fragen. Das Einzige, was ich immer wieder sagte – bis ich glaubte, es würde uns alle in den Wahnsinn treiben –, war: »Ich werd reden, wenn Sie meinen Freund herbringen. Ich werd alles sagen, wenn ich Spinne gesehn hab.«
Sie versuchten den ganzen üblichen Kram: guter Bulle, böser Bulle, netter Bulle, irritierter Bulle, sympathischer Bulle, drohender Bulle. Nichts davon interessierte mich – ich ließ ihre Stimmen über mich hinwegschwappen, was sie nur noch mehr frustrierte. Sie schleppten einen Arzt rein, mit dem redete ich auch nicht. Ich war mir sicher, wenn ich erst anfing, ihm von den Zahlen zu erzählen, würde er mich schneller, als ich bis drei zählen konnte, in die Psychiatrische einweisen – abtransportiert in irgendeine Sicherungsanstalt, weggesperrt und ruhiggestellt.
Draußen war Bewegung. Die Tür ging auf und eine Frau trat ein: Karen. Um ehrlich zu sein, ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich mich erinnerte, woher ich sie kannte. Die letzten paar Tage waren so intensiv gewesen, dass es mir vorkam, als hätte ich ein komplett anderes Leben, seit ich ihr Zuhause verlassen hatte.
»Jem!«, sagte sie und kam, halb gehend, halb rennend, mit ausgebreiteten Armen durch den Raum. Sie zog mich an sich und schlagartig stand ich wieder in ihrer Küche in der Sherwood Road und war die, die ich immer gewesen war, bevor das Ganze losging. Sie drückte mich lange an sich. In ihrer Umarmung lag so viel Gefühl; es überraschte mich, stieß mich auch ab, ich riss mich aber trotzdem nicht los. Es schien, als ob sie mich wirklich vermisst hatte – und ich hatte geglaubt, sie würde sich über ein paar Tage in Ruhe und Frieden freuen.
Schließlich ließ sie mich los und trat einen Schritt von mir zurück. »Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung? Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Wenn du mir doch bloß was gesagt hättest …« Es lag Schmerz in ihrem Gesicht, Sorge.
»Mir geht’s gut«, antwortete ich, aber das Zittern in meiner Stimme sagte was anderes.
»Du siehst müde aus, blass.« Sie streichelte meine Wange mit ihrer fleischigen Hand. »Jetzt wird alles gut, Jem. Du kannst mit mir nach Hause gehen. Ich denke, die Polizei wird dich morgen weiter befragen, aber dann bin ich ja bei dir. Heute Nacht kommst du mit mir nach Hause.«
Nach Hause. Ich dachte an die Sherwood Road, die Siedlung, die Zwillinge – alles wie immer.
»Ich geh aber hier nicht weg, nicht ohne Spinne.«
»Natürlich gehst du, Jem. Du hast so viel durchgemacht. Ich werd mich um dich kümmern. Nimm dir eine Auszeit.«
»Ich bleibe hier.«
Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Ich glaube, das wird nicht gehen, Jem. Das hier ist kein Ort, wo Menschen wohnen können.«
»Ich kann und ich werd bleiben. Ich werd so lange bleiben, bis sie mir Spinne zurückbringen. Du jedenfalls wirst mich hier nicht wegkriegen. Du kannst mich nicht zwingen.«
Sie hatte jetzt ihre Hand auf meinem Arm liegen. »Niemand wird dich irgendwo hinbringen, wenn du nicht willst. Ich bitte dich doch nur – und zwar inständig, Jem –, dass du mit nach Hause kommst.«
Ich schüttelte ihre Hand ab. Sofort verzog sich ihr Gesicht vor verletzten Gefühlen.
»Ich geh aber nicht, Karen. Ich bleib hier.«
Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »So stark, wie du glaubst, bist du
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