Den Tod vor Augen - Numbers 2
passiert.«
Sie reden davon, dass sie mich wegen Körperverletzung anklagen wollen, aber dann einigen sie sich stattdessen mit Oma darauf, dass sie mich in einer Woche wieder aufs Revier bringt. Wollen mich ein bisschen schmoren lassen und schauen, ob ich nicht doch noch meine Meinung ändere und mit ihnen rede. Sie unterschreibt die Papiere und wir machen uns auf den Weg nach Hause.
Es ist nach zehn, als wir zurückkommen. Auf der Matte hinter der Haustür liegen zwei Umschläge, einer an mich adressiert und einer an Oma. Der an Oma ist von der Schule. Ich bin sechs Wochen vom Unterricht suspendiert. Danach muss ich zu einem Gespräch mit dem Direktor erscheinen, um zu klären, ob ich wieder zurückdarf. Scheiß drauf. Was mich angeht, geh ich da sowieso nicht mehr hin.
Den Brief an mich öffne ich in meinem Zimmer. An die Handschrift kann ich mich nicht erinnern und einen Moment lang denke ich, der Brief könnte vielleicht von Sarah sein. Ich halte den Atem an, als ich ihn öffne. Lass ihn von ihr sein. Lass mit ihr alles in Ordnung sein. Er ist nicht unterschrieben, aber das muss er auch nicht.
Hey Loser ich weiß was in deinem Buch steht du elendes Arschloch hab mein Namen gefunden und dahinter hast du ein Datum für mich geschrieben aber um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen du Arschgesicht sondern um dich. 06122027. Bis dann.
Sofort ist der Geruch nach Schweiß, der sengende Schmerz, meine Augen, rot geflutet, der Geschmack von Blut wieder da. Ist das mein Blut. Wirklich?
SARAH
Ich ziehe meine Sachen aus und betrachte mich im Spiegel. Von vorn wirke ich immer noch wie ich, so ziemlich jedenfalls. Mein Bauch hat sich nicht in die Breite gedehnt, deshalb ist die Silhouette noch gleich. Aber meine Brüste sind angeschwollen und irgendwie breiter. Und meine Fußknöchel werden auch immer dicker.
Ich drehe mich zur Seite. Mein Bauch ist riesig geworden. Als ich noch zu Hause war, hat er sich kaum verändert – es war einfach, ihn unter den Sachen zu verstecken –, doch seit ich hier bin, wächst er unaufhörlich. Die Haut ist so gespannt, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, er könnte noch dicker werden.
Vinny hat mir ein Buch gegeben. Es enthält lauter Bilder, wie ein Baby entsteht, wenn es sich aus ein paar Zellen zuerst zu einer Art Kaulquappe und dann zu einem Winzling entwickelt, der langsam so aussieht wie ein Mensch. Ich hab es von vorn bis hinten durchgelesen. Den Teil über die Geburt gleich drei Mal. Bis dahin hatte ich mir nie so richtig Gedanken gemacht, wie das Baby eigentlich rauskommen soll. In ein Krankenhaus kann ich nicht, denn die brauchen meinen Ausweis und dann erzählen sie es meinen Eltern und ich sitz in der Falle. Außerdem will ich nicht, dass meine Tochter einen Chip bekommt. Das machen sie nämlich jetzt so. Jedem Kind wird nach der Geburt ein Mikrochip eingepflanzt. Früher haben sie das bei Hunden gemacht – unsrer hatte auch so einen Chip –, aber jetzt tun sie es bei Menschen. Das macht mich wahnsinnig.
Also muss ich mein Kind hier kriegen, allein. Ich schaue auf meinen Bauch. Das Baby bewegt sich – ich sehe, wie sich ein Knie oder ein Ellenbogen unter der Oberfläche bewegt. Sie wird bald da sein. Verdammt, wie soll das gehen? Es kommt mir vor, als müsste ich ein Buddelschiff aus der Flasche holen. Das ist unmöglich.
Ich habe überall Gänsehaut. Es ist zu kalt im Zimmer, um nackt zu sein. Aber ich bin noch nicht bereit, mich wieder anzuziehen.
Sieh doch, in welchem Zustand ich bin. Wie konnte das passieren? Natürlich weiß ich, wie. Ich hab Ihn nie abgewehrt – das hätte ich tun müssen. Ihn treten, Ihn schlagen, Ihn beißen. Ich hab ja nicht mal Nein gesagt. Er ist ein kräftiger Mann, also könnte ich behaupten, ich hätte Angst vor Ihm gehabt, und das stimmt auch. Nachts, im Dunkeln – ausgeschaltet, unpersönlich, war Er überhaupt nicht wie mein Dad –, aber es war nicht Angst, die mich davon abhielt zu schreien. Es war Liebe. Er war mein Dad und ich liebte Ihn. Und Er liebte mich.
Nur dass ich diese Art von Liebe nie gewollt hatte.
Jetzt bin ich hier. Schwanger. Allein. Das hat Er mir angetan. Er ist ein verkorkster, kranker Mann. Ich hasse Ihn. Die Leute sollten wissen, was Er für ein Mensch ist. Er sollte vor Gericht stehen, bloßgestellt werden. Er sollte im Gefängnis verrotten. Und doch … und doch … ich weiß, dass ich Ihm das nie antun könnte, denn Er ist immer noch mein Dad.
Vielleicht bin ich ja genauso krank
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